Zum Hauptinhalt springen

Das Inflationsgespenst: Kurzbesucher oder Dauergast?

Von Christian Nemeth

Gastkommentare
Christian Nemeth ist Chief Investment Officer der Zürcher Kantonalbank Österreich AG.
© Zürcher Kantonalbank

An den Finanzmärkten hat die Inflationsdebatte die Corona-Pandemie inzwischen in den Hintergrund gerückt.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 3 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Wie eine Fondsmanager-Umfrage der Bank of America im Frühjahr ergab, hat die Angst vor der Inflation der Corona-Pandemie den Rang abgelaufen und ist mittlerweile an die Stelle des Top-Risikos Nummer eins gerückt. Ein Anstieg der Inflation in den USA war erwartet worden, der Sprung auf 5 Prozent im Mai, aber auch der stärkste Inflationsanstieg in einigen europäischen Staaten im Zehnjahresvergleich sorgte für Aufregung. Unterschiedliche Faktoren treiben die Inflation in die Höhe. Der erhöhte Inflationsdruck ist teils eine logische Folge der Wiederöffnung der Wirtschaft: Zuletzt wurde viel angespart, diese Ersparnisse werden jetzt auf den Markt losgelassen. Dank der steigenden Nachfrage werden sich die Unternehmer nun ihrer Preissetzungsmacht bewusst. Doch die Inflation ist ein vielschichtiges Phänomen, und die wesentliche Frage lautet, ob der Inflationsdruck temporärer oder permanenter Natur ist.

Die Finanzwirtschaft ist aktuell in zwei Lager gespalten. So basiert die Ansicht des ersten Lagers auf der Annahme, die starken Stimulus-Maßnahmen der Notenbanken und Regierungen würden die Inflation antreiben und es manifestiere sich ein längerer Preisauftrieb. Die Notenbanken müssten dann früher restriktiver werden und würden der starken Aktienmarktentwicklung ein vorläufiges Ende setzen. Eine länger anhaltende Phase hoher Inflation könnte eintreten, wenn Friktionen in der Wirtschaft hartnäckig bestehen bleiben, die Lieferketten längerfristig nicht funktional sind, es zur Umschichtung von Produktionsstandorten im Zuge der Loslösung von globalen Lieferketten kommt oder - wie in den USA ersichtlich - ein Fachkräftemangel zu Lohnpreiserhöhungen führt.

Wahrscheinlicher ist aber wohl die Einschätzung des zweiten Lagers, wonach die Preissteigerungen temporärer Natur seien und das Preisniveau aufgrund der befristeten Wirkung von Nachholeffekten sinken werde beziehungsweise die Preissteigerungen nur auf bestimmte Güter zutreffen würden. Es ist schon richtig, dass ein deutlich wahrnehmbarer Inflationsbuckel aufgebaut wird, der sich jedoch mittelfristig - vielleicht nicht ganz so schnell wie erwartet - wieder auflösen wird. Zu erwarten ist, dass die US-Notenbank Fed im Herbst eine Reduktion der Wertpapierkäufe ankündigen und ab Anfang 2022 effektiv mit der Drosselung beginnen wird. Je länger das Gewinnwachstum und die Unterstützung durch die Notenbanken anhalten, umso besser läuft es für Aktien.

Der Wirtschafts- und Aktienausblick für Europa ist jedenfalls positiv. Die Eurozone kommt aus den Startlöchern und wandelt konjunkturell gesehen auf den Spuren der USA, deren Wirtschaft sich früher erholt hat. Die Früh- und Vorlaufindikatoren sprechen für ein kräftiges und breit abgestütztes Wachstum in Europa. So haben die Firmenaufträge im Mai so stark zugenommen wie zuletzt vor 15 Jahren. Insbesondere der Dienstleistungssektor gewinnt jetzt wieder rasch an Fahrt, während die Industrie von einem besseren Auftragsvolumen profitiert und weiter mit Volldampf unterwegs ist. Das sollte dem europäischen Aktienmarkt Schwung geben.