Europäisches Bewusstsein blieb 2005 auf der Strecke. | Glaube an Sonderrolle fest verankert. | Ist die österreichische Identität nur äußerlich stark? | "Wiener Zeitung": Das Jubiläumsjahr 2005 ist nun Geschichte. Hat es Ihre Erwartungen erfüllt?
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Oliver Rathkolb: Positiv ist sicherlich, dass vielen, vor allem jüngeren Menschen die Bedeutung der Jahre von 1945 bis 1955 wieder vor Augen gerufen wurde. Negativ ist, dass - wie aktuelle Umfragen zeigen - unsere europäische Identität endgültig in den Keller gerutscht ist. Bei der EU-Skepsis haben wir sogar die Briten überholt - und das will etwas heißen. Das Jubiläumsjahr hat in vielen Bereichen auch ausgeklammert, dass wir eigentlich die Glückskinder des Kalten Krieges waren. Staatsvertrag und Aufbauleistung waren aber nur vor dem Hintergrund günstiger internationaler Rahmenbedingungen möglich.
Sehen Sie hier eine bewusste Geschichtspolitik am Werk?
Ich würde eher von unbewussten Kräften sprechen. So hat das Jahr etwa mit einer sehr lobenswerten Veranstaltung zum österreichischen Widerstand begonnen. Hätte man jedoch die Dinge wirklich gegen den Strich bürsten wollen, hätte man die Frage stellen müssen, warum uns die Auseinandersetzung mit der eigenen Täterrolle nach 1945 so schwer gefallen ist. Das wäre ein ganz anderer Auftakt gewesen.
Was wird von diesem Jahr im Bewusstsein bleiben?
Die Bedeutung des Staatsvertrages wurde noch stärker hervorgehoben - und damit auch die Neutralität, weil die Menschen hier nicht unterscheiden. Generell wurde das - im internationalen Vergleich ohnehin bereits ausgeprägte - österreichische Selbstbewusstsein noch weiter gestärkt. Ich halte das für keine ideale Vorbereitung auf den österreichischen EU-Vorsitz. Die Menschen sehen Österreich als Insel - ob der Seligen oder Tüchtigen, ist da schon zweitrangig: Insel bleibt Insel.
*Wäre 2005 nicht auch eine Gelegenheit gewesen, die Neutralität zu hinterfragen?
Spätestens mit der Bundespräsidentenwahl 2004 ist allen Parteien klar, dass ein unklares Verhältnis zur Neutralität bei Wahlen schadet. Paradox ist, dass der völkerrechtliche Status dabei keine Rolle mehr spielt und von einem neuen Inhalt ersetzt wurde: Dem festen Glauben, dass man als Kleinstaat gegen den Strom der Zeit schwimmen kann. Dieses Neutralitätsverständnis ist international, vor allem in der EU, ein großes Problem. Es hat dazu geführt, dass wir mit durchaus berechtigten Anliegen - von der Atomkraft bis zum Transit - gescheitert sind. Außenministerin Ursula Plassnik hat das erkannt und setzt deshalb verstärkt auf europäische Gruppenbildung zur Durchsetzung österreichischer Interessen. Hier muss aber noch viel Aufklärungsarbeit geschehen. Die Menschen glauben noch immer, mit den nationalstaatlichen Mitteln des 19. Jahrhunderts den jetzigen Wohlstand bewahren zu können.
Der "Sonderfall Österreich" kultiviert also weiter sein Image?
Derzeit wird unser Sonderweg wieder stärker betont, wobei die nationale Stimmungslage ein Mix aus totaler Überschätzung und Minderwertigkeitskomplexen ist. So wird etwa der Umbruch in der europäischen Bildungspolitik sofort als nationale Katastrophe gewertet, statt nüchtern die Situation zu analysieren und auf die eigenen Stärken zu vertrauen. Das gleiche spielt sich auch beim Thema Migration ab. Anders ist nicht erklärbar, dass sich Österreich am stärksten von einer EU-Integration der Türkei bedroht fühlt. Angesichts dieser Bestandsaufnahme muss man sicherlich fragen, wie gefestigt die angeblich so starke österreichische Identität ist.
Wie passt der internationale Erfolg österreichischer Unternehmen in dieses Bild?
Im ökonomischen Exportbereich vor allem nach Mittel- und Osteuropa sind wir tatsächlich sehr gut unterwegs. In diesen Ländern gibt es für uns offensichtlich einen historisch sicheren Boden und gemeinsame kulturelle Codes. Das ist ein großer Vorteil, den andere westeuropäische Staaten nicht haben.
Wird Österreichs Außenpolitik in die erfolgreichen Fußstapfen der Wirtschaft treten können?
Bei der Erweiterungsdiskussion hat man gesehen, dass das nicht der Fall ist - umso überraschender ist der wirtschaftliche Erfolg. Europa ist für Medien wie Politik immer noch ein Fremdkörper, und das, obwohl wir enorm profitieren. Das Bewusstsein der Bürger rezipiert aber etwas ganz anderes.
Welche Schwerpunkte werden wir im Jubiläumsjahr 2015 erleben?
Historiker sind bekanntlich schlechte Prognostiker, aber meiner Ansicht nach werden wir dann die Bedeutung der Jahre 1994/95 wiederentdecken, als Österreich der EU beitrat. Dass heuer die Zeit von 1945 bis 1955 so im Zentrum stand, hat auch damit zu tun, dass dies prägende Jugendjahre maßgeblicher Akteure der Gegenwart waren. Diese empfanden diese Epoche als enorm positiv und als eine Zeit, auf der man aufbauen konnte. 2015 werden wir versuchen, die österreichische Nationalgeschichte viel stärker in ihren europäischen Kontext zu stellen. Bis dahin wird sich, so glaube ich jedenfalls, auch in der Politik die Anti-EU-Linie totgelaufen haben.
Oliver Rathkolb (50) ist Universitätsprofessor und Leiter des Ludwig Boltzmann Instituts für Europäische Geschichte und Öffentlichkeit. Für sein Buch "Die paradoxe Republik. Österreich 1945 bis 2005" (Zsolnay Verlag) erhielt er kürzlich den Donauland Sachbuchpreis sowie den Bruno-Kreisky-Preis für das politische Buch des Renner-Institutes.