Gebannt verfolge ich wie bis zu zwei Milliarden Menschen im TV die Olympischen Spiele in Peking - speziell die Bewegungsabläufe der Spitzenathleten in Zeitlupe. Diese grandiose Leistungsschau tröstet mich darüber hinweg, dass wir dieses Ereignis jenem Internationalen Olympischen Komitee (IOC) verdanken, dessen Vorgangsweise dem Versuch gleichkommt, Jungfrau und Prostituierte zugleich zu sein.
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Für den Zuschlag der Spiele garantierte China dem IOC volle Bewegungs- und Informationsfreiheit für alle Journalisten. Trotzdem sperrte es ihnen jüngst den Zugang zu einer Reihe von Internet-Seiten, darunter BBC und CNN. Das IOC schweigt. Ein europäisches TV-Team machte von der zugesicherten Bewegungsfreiheit im Umfeld von Peking Gebrauch und wurde von chinesischen Geheimdienstlern dafür verprügelt. Ein anderes TV-Team besuchte einen "kleinen" Chinesen. Allgegenwärtige Geheimdienstler griffen sich hinterher diesen Mann und führten ihn gefesselt ab, während das Team diesen Vorgang mit versteckter Kamera filmte. Zu beidem schweigt das IOC, obschon die Olympische Charta "jede Form der Diskriminierung" verbietet und "auf eine friedliche Gesellschaft und den Schutz der persönlichen Würde" hinarbeitet.
China reservierte drei Parks in Peking für Demonstrationen - sofern sich die Demonstranten an die Gesetze halten. 2004 wurden "Achtung und Schutz der Menschenrechte" in Chinas Verfassung aufgenommen. Amtlich wird das nach "chinesischer Eigenart" praktiziert: Die KP lenkt alles und duldet politische Opposition nur innerhalb der KP. Was sollen dann Demonstrationen? Gleichwohl mahnte das IOC die Journalisten, sich bei ihrer Arbeit an die chinesischen Gesetze zu halten - die Zensur inbegriffen.
In der Charta steht auch: "Alle Nationalen Olympischen Komitees müssen sich der Olympischen Charta fügen." Jenes in China unterliegt aber auch der Verfassung: "Unter KP-Führung werden die Volksmassen an der demokratischen Diktatur der Volkes festhalten." Ist es also Jungfrau und Prostituierte zugleich?
Die Charta "fördert und unterstützt verantwortungsbewusstes Interesse am Umweltschutz". Jüngst erhielt Sotschi den Zuschlag für die Winterspiele 2014, obwohl dort eine riesige Naturlandschaft geopfert wird. Das und warum Peking jetzt Olympiastadt ist, erklärt die Charta so: "Die Olympischen Spiele sind ausschließliches Eigentum des IOC, das unbegrenzt alle Rechte an Organisation, Nutzung und Übertragung besitzt und die Bedingungen für den Zugang zu diesen Daten festlegt."
In Fraktur übersetzte Schleiersprache: Olympia ist eine Goldgrube. Sie ermöglicht es den Olympiern des IOC, im hygienischen Archipel Hilton über das in der Charta festgelegte "Menschenrecht der Ausübung von Sport" und die "Förderung von Ethik im Sport" zu sinnieren.
Trotzdem: Genießen Sie die olympische Leistungsschau im Fernsehen.
Clemens M. Hutter war bis 1995 Ressortchef Ausland bei den "Salzburger Nachrichten".