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"Das ist das große Unglück der Schule"

Von Ina Weber

Politik

Susanne Jerusalem hat als junge Mutter gegen das Bildungssystem rebelliert und ihre eigene Schule gegründet - heute blickt die stellvertretende grüne Bezirksvorsteherin in Mariahilf auf ein jahrzehntelanges Parteien-Gezerre zurück.


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Wien. Sie war Lehrerin in einer der wenigen Alternativ-Schulen der 1970er Jahre in Wien: Die engagierte Mutter und Großmutter Susanne Jerusalem sitzt seit 20 Jahren für die Wiener Grünen im Gemeinderat. Dabei hat sie durchaus ihren eigenen Kopf, wenn es um das Thema Schule geht.

"Wiener Zeitung":Sie haben die vor 35 Jahren in Wien gegründete SchülerInnenschule - heute im WUK - mitgetragen. Eine Schule ohne Schularbeiten und ohne Disziplinierungen. Warum?Susanne Jerusalem: Ich habe das damals gemacht, um meinen jüngeren Sohn aus der Schule herauszuholen. Seine Lehrerin war gelinde gesagt verrückt. Mein Sohn konnte in keine andere Klasse und in einen anderen Sprengel durfte man damals nicht wechseln. Das war sehr streng. Dann habe ich mir gedacht, so, ihr könnt mich gernhaben, ich gründe mir meine Schule selbst. Ich hatte die Ausbildung zur Hauptschullehrerin, hab mir damals aber schon gedacht, dass ich das so nie machen werde. Das war eine Ausbildung zum Dompteur. Wesentlich war dabei, den Stoff in die Kinder hineinzustopfen und zu schauen, dass sie leise sind. Dann haben wir unsere eigene Schule gegründet und mit sieben Kindern angefangen.

Heute gründen nicht mehr so viele Eltern ihre eigenen Schulen, wenn sie mit dem Lehrer ihres Kindes unzufrieden sind.

Heute kann man auch problemlos den Schulsprengel verlassen und sich eine neue Schule suchen. Da hat sich Entscheidendes geändert. Vieles am Schulsystem ist jedoch gleichgeblieben. Das System hat sich nicht entscheidend auf Kinder eingestellt. Es ist ein Lehrplansystem geblieben und hat sich nie wirklich auf ein Lernsystem umgestellt. Die Elemente, die wir damals in der Alternativ-Schule erprobt haben, könnte man locker auf die Regelschule übertragen. Wir brauchen eine Lernkultur. Das ginge. Die Politik traut sich aber nicht.

Bevor wir zum Inhaltlichen kommen - SPÖ und Grüne sind sich doch in Wien in Sachen gemeinsame Schule statt Trennung zwischen Mittelschule und Gymnasium einig. Weshalb wird sie nicht umgesetzt?

Das ist eine Bundesentscheidung. Da kann Wien zwar sagen, ja, wir wollen das, aber das war es schon. Man kann nicht als Bundesland die gemeinsame Schule einführen und wir wissen ja, dass die Gymnasien nicht begeistert sind, sich selbst als Neue Mittelschulen beziehungsweise Wiener Mittelschulen zu bezeichnen. Das wäre für Wien aber eine gute Sache, wenn alle Mittelstufen Wiener Mittelschulen wären.

Der Bund hat vor zwei Monaten eine Bildungsreform präsentiert. Darin wird die gemeinsame Schule als Modellregion mit 15 Prozent gedeckelt, sprich diese Schulart muss in der Minderheit bleiben.

Die 15-Prozent-Regelung ist Unsinn. Vor allem dem Ballungsraum Wien hilft das in keiner Weise. Die Volksschule ist eine Gesamtschule und sie ist erfolgreich. Eine Fortsetzung um vier Jahre wäre sinnvoll.

Im Rahmen eines Schulversuchs ist aber bereits jetzt sehr viel möglich.

Formal mag das so sein, in Wahrheit ist es nicht so. Erstens weil ich die Durchmischung der Kinder nicht habe. Ich habe nach wie vor die Einen, die einen Dreier im Volksschul-Zeugnis haben und im Endeffekt auf Standorte kommen, die früher Hauptschulen waren, und dann habe ich die Kinder, die mit Einser und Zweier auf Schulsuche gehen und in einer AHS landen. Die Durchmischung kann ich durch neue Etiketten nicht herbeiführen. Wenn ich in einer 4. Klasse AHS sitze, gehe ich einfach weiter. Die Kinder, die in einer Neuen Mittelschule waren, müssen auf Schulsuche gehen und die Schulplätze gibt es nicht. Durch einen Formalakt existieren ja nicht mehr Oberstufenklassen.

In der Seestadt Aspern, dem Vorzeigeprojekt der SPÖ, zieht jetzt eine AHS ein . . .

Das, was die SPÖ sagt und macht, verstehe ich schon lange nicht mehr. Die SPÖ weiß nicht, was sie will. Die Freiheit der Schulwahl haben jene Kinder, die von einem Standort kommen, der früher Hauptschule war, nicht. Die meisten versuchen in einer HAK oder HTL unterzukommen, was dort in den 1. Klassen für Überfüllung sorgt, und dann wird aussortiert. Die Jugendlichen sind ein Jahr dort und gleich wieder weg. Dabei wollen sie einfach nur eine Oberstufe besuchen. Solange es hier auf Bundesebene keine eine Einigung gibt, wird es nicht besser werden.

Die Grünen sind für eine gemeinsame Schule der 6- bis 15-Jährigen.

Ich würde noch weiter gehen und die Jahrgangsklassen auflösen. Volksschule könnte auch fünf Jahre dauern, weil das Lerntempo eines Kindes unterschiedlich ist. Ich finde zum Beispiel, dass die 6- bis 8-Jährigen und die 9- bis 12-Jährigen gut zusammengehen.

Ein Viertel aller 15-Jährigen in Wien können nicht sinnerfassend lesen. War das früher besser?

Ich glaube nicht, dass es vor 20 Jahren sehr viel besser gewesen ist, allerdings hatte man damals noch keine Vergleichszahlen. Erst nach dem ersten Pisa-Test hatten wir Daten. Der Rückschluss ist aber glaube ich zulässig, dass es auch vorher das Problem gab. Schule funktioniert so, dass es eine strikte Einteilung gibt, was in jedem Monat, ja in jeder Woche, zu passieren hat. Das ist die Lehrstoffverteilung. Dort wird festgehalten, was das Kind können soll. Der Lehrer ist faktisch dazu gezwungen, diesen Plan umzusetzen. Wenn jetzt das eine oder andere Kind oder ein Viertel oder die Hälfte der Klasse nicht mitkommen, dann heißt es Pech gehabt. Dann bekommt das Kind entweder Nachhilfe, d.h. die Eltern klemmen sich dahinter, oder es kommt nicht mehr mit. Der Plan sagt nicht, hol das Kind ab, wo es steht, sondern der Plan sagt, zieh mich durch. Schule ist darauf aufgebaut, dass die Eltern ausgleichend wirken. Und hier sind wir beim Hauptproblem, dass nämlich Bildung vererbt wird, weil nur Eltern, die entweder das Geld oder die Bildung haben, dafür sorgen können, dass Missstände ausbalanciert werden. Das ist das große Unglück der Schule.

Warum müssen dann die Lehrer nicht viel eher nachweisen, dass die Kinder alles können?

Beides geht schon einmal nicht, dass die Kinder alles können und gleichzeitig der Lehrplan erfüllt wird. Das ist ein Widerspruch in sich. Deshalb sind individuelle Lernpläne viel sinnvoller und der Frontalunterricht eine Katastrophe. Das könnte so aussehen: Ich mache eine Zeitlang Mathematik, weil das dem Kind Spaß macht. Dann kann es sein, dass es ein paar Jahrgänge in diesem Bereich weiter ist. Das Kind erfährt dadurch, dass es etwas gut kann, und am Ende ist sein Selbstwert so gestärkt, dass es auch alles andere gerne lernt. Aber wenn ich Kinder schon in der Volksschule verliere, dann werden sie das nicht mehr aufholen.

Warum ist der Lehrplan anscheinend für viele Kinder zu schwer?

Man kann nicht sagen, dass der Lehrplan zu schwer ist. Man kann sagen, dass der Lehrplan individuell dem Tempo und Rhythmus der Kinder nicht entspricht. Ob ein Kind vier oder fünf Jahre braucht - das muss egal sein und in die neue Autonomie hinein. Nehmen wir an, es gibt individuelle Lernpläne. Dann sind die Kinder am Ende auch dort, wo der Plan aufhört, nur haben sie den Mut nicht verloren. Sie haben ihren Selbstwert behalten, sie haben die Freude am Lernen behalten, sie haben das Lernen gelernt. Die Kinder sind dann autonom und sie gewinnen an Energie und Power.

Wieso gehen so viele Kinder nicht gerne in die Schule?

Wenn wir ehrlich sind, ist das schon ziemlich öd, was einem da geboten wird - von 8 bis 13 Uhr. Sitzen und still sein müssen. Nicht in allen Schulen ist das Austoben möglich und nicht alle Lehrer sind daran interessiert. Außerdem werden die Kinder in die Schulgebäude, die für den halbtägig geführten Unterricht errichtet wurden, jetzt ganztägig hineingestopft. Wenn die Schule dann keinen großzügigen Hof und Grün- und Sportflächen hat - was soll das für ein Leben sein. Wenn sich Lehrer gut verstehen und gemeinsam Projekte machen, ist das eine Rarität. Viele engagierte Lehrer schmeißen nach kurzer Zeit den Hut drauf. Auch ist es durch die Form der Tests, wie sie heute gemacht werden, Pearl, Pisa, etc. dazugekommen, dass in vielen Klassen nur noch für solche Tests trainiert wird. Dadurch hat man sich von einer Lernkultur ja noch weiter entfernt. Die Lehrer wissen, sie werden getestet, und das hat die Situation in der Klasse verschärft.

Ist der Bildungsstand in Wien jetzt wirklich so schlecht?

Man muss differenzieren. Ich finde das System sehr schlecht. Das ist ein Lehrsystem und kein Lernsystem. Es sind aber viele Lehrer darunter, die sich einen Haxen ausreißen. Dass da aber so viel schiefrennt, immer noch, das kann ich nicht verstehen.

Autonomie heißt das neue Zauberwort...

Autonomie ist als Schlagwort sehr schön, müsste aber in dem, was das wirklich bedeutet und sein kann, genau beschrieben werden. Wir haben ja keine Autonomiekultur. In Dänemark ist das anders, dort sind die Schulen autonom, aber die haben diese Kultur seit Jahrzehnten. In Wien werden alle Schulen parteipolitisch besetzt, jede Schule ist entweder rot oder schwarz. Autonom wäre dann der Direktor, der sagt, wo es langgeht. Wenn ich einen mäßig begabten Direktor habe und dem die Autonomie gebe... Es gibt eine Handvoll Direktoren, die die Nischen des Systems gut nutzen. Die kämpfen wie die Wilden gegen die Bürokratie des Systems. Das sind aber die Ausnahmen.

Die Lehrer haben eigentlich viel Freiheit in der Klasse, sie können schon jetzt vieles gestalten.

Ja, es gibt schon jetzt viele Möglichkeiten für Lehrer, sich in dem System zu bewegen. Dann gibt es die 1a mit einer super Lehrerin und die 1b mit Frontalunterricht, strengem Regiment und großer Langeweile. Von den Lehrern hängt ganz viel ab. Doch jede Montessori oder Frenet-Ausbildung müssen sich Lehrer selbst bezahlen, das ist nicht Teil der normalen Ausbildung. Zu den Lehrern muss man sagen, dass diese durchaus Auszeiten bräuchten, etwa im Rahmen von Sabbaticals oder einen Tag in der Woche frei. Hier gibt es bereits Autonomie, wenn man so will. Lehrer können sich etwa einen fixen Tag in der Woche freinehmen. Oft sind gar nicht mehr Lehrer als vielmehr Sozialarbeiter und Psychologen vonnöten. In Finnland gehören Sozialarbeiter und Psychologen zur Schule dazu. Dort kann eine Schule nicht sagen, dieses Kind will ich nicht. Bei uns lässt man alles zum Problem werden und Kinder werden zu Wanderpokalen.

Zur Person

Susanne
Jerusalem

ist stv. Bezirksvorsteherin im 6. Bezirk und seit 1991 grüne Landtags- und Gemeinderatsabgeordnete. Von 1988 bis 1991 war sie Bezirksvorsteherin von Wieden. Sie ist Mitbegründerin der ersten freien Schule Wiens und war 20 Jahre Mitglied im Kollegium des Stadtschulrates.

Buchneuerscheinung:
Zuhause in der Schule.
Claudia Gerhartl, Christine Oertel, Gerhard Stöger. Milena Verlag.