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"Das ist doch unsere Stadt!"

Von WZ-Korrespondentin Simone Brunner

Politik

Russische Polizei geht gegen Demonstranten vor und nimmt Oppositionsführer Nawalny fest.


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Moskau. "Glorreich seist du, unser freies Vaterland", donnert die russische Hymne aus den Lautsprechern. Die Sänger wiegen sich im Takt, die Bühne ist mit weiß-blau-roten Luftballons, der russischen Trikolore, geschmückt. "Schande! Schande!", rufen wenige Meter weiter die Passanten, wenn wieder Demonstranten in die "Awtosaki", die Gefangenentransporter, geschoben werden. "Sie befinden sich auf einer nicht-genehmigten Demonstration", sagt die Polizei durch Lautsprecher durch. "Wir bitten Sie, nicht gegen die Ordnung zu verstoßen und auseinander zu gehen."

Es sind absurde Szenen, die sich am Montag im Moskauer Stadtzentrum abgespielt haben. Tausende Protestierende sind dem Aufruf des Oppositionellen Alexej Nawalny gefolgt, gegen die Machthaber zu demonstrieren. Unter dem Motto "Antworten zu fordern" sind am Montag, dem "Tag Russlands", in knapp 200 Städten Russen in Anti-Korruptions-Protesten auf die Straße gegangen.

Vor allem in Moskau hatte sich die Lage zuletzt zugespitzt: Am späten Sonntagabend hatte Nawalny den angekündigten und auch genehmigten Protest von einem Boulevard im Stadtzentrum auf die Twerskaja-Straße, die zentrale Prachtstraße im Herzen Moskaus, die direkt zum Kreml führt, verlagert. Ausgerechnet an einen Ort, wo an diesem Tag das Volksfest "Zeiten und Epochen - die Geschichte der Siege Russlands", mit Reenactments aus der russischen Geschichte, von der Stadtverwaltung organisiert worden war. Laut Nawalny hätte die Stadt Druck auf Firmen ausgeübt, keine Bühnentechnik auf dem ursprünglich geplanten Veranstaltungsort zur Verfügung zu stellen. Nawalny selbst wurde indes schon beim Verlassen seines Hauses verhaftet: Laut seinem Anwalt drohen ihm bis zu 30 Tage Haft wegen der Verletzung des Demonstrations-Rechts.

So wirkte der Protest auf der Twerskaja-Straße zu Beginn etwas führungslos. Während Touristen und Familien mit Kinderwägen durch die Freiluftausstellung von Militärgerät, Barrikaden und Reenactments von Schlachten flanierten und Selfies schossen, mischen sich in den Nachmittagsstunden immer mehr Regime-Gegner, vor allem auffallend viele junge Menschen, in die Menge. Immer öfter branden die Parolen "Russland ohne Putin! Putin ist ein Dieb! Rücktritt Medwedew! Russland wird frei sein!" auf. Mit den Regimegegnern rückte aber immer mehr OMON-Kräfte, die gefürchtete Sonderpolizei mit Helmen und Schlagstöcken bewaffnet, auf die Twerskaja aus, um die Menschenmenge Stück für Stück einzukesseln. 700 Menschen sollen in Moskau von der Polizei festgenommen worden sein, in der zweitgrößten russischen Stadt Sankt Petersburg sollen es zumindest 500 gewesen sein.

Die jungen Demonstrierenden in Moskau reagieren derweil mit einer eigentümlichen Mischung aus Amüsement und Empörung auf die Polizeigewalt. Eine junge Frau lässt sich vor der Reihe der Polizei fotografieren, hebt die Oberarme wie zum Kampf und lacht in die Kamera ihres Freundes. "Wenn ihr demonstrieren wollt, dann geht doch in die Ukraine!", schimpft derweil ein Mann, mit einem kleinen Mädchen auf dem Arm. "Sie wissen nicht, wen sie rausfischen sollen", kommentiert der 19-jährige Alexej, der abseits steht, die Szene. "Die Leute, die sich für Patrioten halten und heute zu diesem Feiertag gekommen sind, oder die, die gegen Korruption sind?" - "Das ist verdammt noch mal unsere Stadt, und wir entscheiden, wo wir spazieren gehen!", schimpft ein Mann in Lederjacke und schwarzer Hose.

Der Protest hatte sich zuletzt an einem 50-minütigen Video über den russischen Premier Dmitrij Medwedew entzündet, bei dem Nawalny dem Premier vorwirft, sich über scheinkaritative Stiftungen bereichert zu haben. Es sind vor allem diese Videos, mit denen der 41-jährige Oppositionelle einen Nerv getroffen hat, allein das Medwedew-Video wurde auf YouTube bereits 22 Millionen Mal geklickt. Kannten Nawalny im Jahr 2011 laut einer Umfrage nur sieben Prozent der Russen, ist es heute bereits jeder Zweite - obwohl Nawalny in den Staatsmedien so gut wie nicht vorkommt. Zuletzt hat Nawalny angekündigt, für die russischen Präsidentschaftswahlen im März 2018 zu kandidieren. Ob er zugelassen wird - ein Strafverfahren läuft gegen ihn -, ist indes noch nicht klar.

Einschüchterung, Repression

Im Vorfeld der Proteste haben die Behörden auf ein altes Rezept gesetzt: Einschüchterung und Repressionen. Von Tula in Zentralrussland bis Chabarowsk im Fernen Osten wurden dieser Tage Nawalnys regionale Wahlkampfleiter festgenommen. Auch haben sich zuletzt wieder die Verhaftungen in der "Causa des 26. März" gehäuft: Damals waren in ganz Russland zehntausende Menschen Nawalnys Aufruf gefolgt, gegen die Korruption zu auf die Straße zu gehen. Allein in Moskau wurden bei einer nicht-genehmigten Demonstration mehr als 1000 Teilnehmer festgenommen, hunderte zu Geldstrafen oder Haft verurteilt worden. Wie Nawalny selbst, der damals wegen der "Organisation von Massenunruhen" für 15 Tage inhaftiert wurde.

Nawalny-Anhänger im Hoch

Es ist dem Kreml bisher so gar nicht gelungen, der Proteststimmung vor allem unter den jungen Russen den Wind aus den Segeln zu nehmen. So soll es gerade die Präsidialadministration gewesen sein, die zuletzt aufwendig produzierte Online-Videos in Auftrag gegeben hat, wie etwa ein Musikvideo, in dem eine populäre Sängerin einmal in Lehrerinnen-, einmal in Rockstarpose einen Schüler auffordert, "Mathe zu lernen" statt zu protestieren. "Wenn dein Herz Veränderungen will, fang am besten bei dir selber an." In einem anderen Video wurde Nawalny gar mit Hitler verglichen und posiert mit einem Nazi-Gruß. Doch diese politische Ästhetik, mit denen der Kreml zuletzt etwa in den Staatsmedien gegen die Ukraine Stimmung gemacht hat, hat im Netz vor allem für Spott und Häme gesorgt. Zwar wurde das Hitler-Video 2,3 Millionen Mal geklickt, aber nur 15.000 fanden das Video gut, knapp 170.000 senkten den Daumen.

Die TV-Propaganda gehe vor allem an den Jungen vorbei, meint die russische Politologin Jekaterina Schulman. "Und selbst, wenn sie das anhören, verstehen sie nicht, was man von ihnen will", so die Politologin in einem Beitrag. "Ihr Ziel ist die Aktivierung der Sowjetareale im Hirn. Wenn jemand diese Areale nicht hat, weil sie ihm nicht schon bei Geburt eingepflanzt wurden, dann plätschert das alles an ihm vorbei." - "Die Politik ist plötzlich wieder in Mode gekommen", schreibt etwa der russische Historiker Serafim Orechanow vom Moscow Carnegie Center.

Die Nawalny-Anhänger fühlen sich indes von den Protesten beflügelt. 300.000 Unterschriften braucht ein parteiunabhängiger Kandidat für die Präsidentschaftswahlen, 500.000 sollen die Wahlhelfer schon gesammelt haben. "Wir wollen jetzt aber die Million knacken", sagt die Wahlkampfhelferin Anna Litwinenko. 46 Wahlkampfbüros hat Nawalny im ganzen Land eröffnet. Nawalny hat dabei vor allem in der Provinz geschickt mit den Ressentiments gegen Moskau gespielt: "Das Geld sollte gleichmäßig über das Land verteilt werden", so Nawalny zuletzt in der Stadt Wladimir vor einer enthusiastischen Gefolgschaft. "Aber das ganze Geld wird nur in Moskau gesammelt, wo es auch gestohlen wird."