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Warum die Armenier gegen die Republikanische Partei auf die Straße gehen.
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Er sei gezwungen, bis spätnachts zu arbeiten, sein Einkommen sei zu niedrig, ließ mich mein unscheinbarer und ständig schelmisch lächelnder Taxifahrer Artak wissen, als wir an schillernden Reklametafeln vorbei über die menschenleere Straße in Richtung des Jerewaner Stadtzentrums fuhren. Er wühlte mit beiden Händen in der Mittelkonsole nach einem Ausweis, den er mir anschließend reichte. Mitglied der Spetsnaz, der militärischen Spezialeinheit sei er, und selbstverständlich unterstütze er die Proteste gegen die Republikanische Partei. Selber teilnehmen könne er jedoch nicht, da man ihn sonst entlassen würde. Ich möge ihm übrigens mitteilen, wie er genau fahren müsse, bittet er und verweist auf eine Schädelwunde. Seit einem Granateneinschlag könne er sich nicht mehr an alle Straßen und deren Namen erinnern.
Mittelstand kaum vorhanden
Artaks Situation ist beispielhaft für die Lage vieler in Armenien. Mühelos ließen sich ähnliche Geschichten hinzufügen. Die seit 1999 in unterschiedlichen Regierungskonstellationen an der Macht befindliche Republikanische Partei habe es nicht geschafft, den Bedürfnissen der Bevölkerung gerecht zu werden, fasst es Hrant Mikaelyan vom Caucasus Institut in Jerewan zusammen. Darüber hinaus dominiere bis heute eine enorme Lohnungleichheit. Ein Befund, der virulent zutage tritt - ein Mittelstand ist kaum vorhanden. Viele leben in Abhängigkeit vom Arbeitgeber oder von kargem Eigenerwerb.
Einen unübersehbaren Beitrag zu den Demonstrationen gegen die Regierung leisten Jugendliche, deren Rolle auch Mikaelyan ausdrücklich betont. Die Republikanische Partei, einst selbst aus einer jungen, national-orientierten Oppositionsbewegung in den letzten Jahren der Sowjetunion hervorgegangen, scheint nun ebenfalls durch das neugewonnene Selbstvertrauen der Jugend und den Generationswechsel ärgstens in Bedrängnis zu geraten. Wurden noch bis vor wenigen Wochen viele Gespräche über Politik mit resignierendem oder genervtem Gesichtsausdruck sowie Sätzen wie "Reden wir nicht über dieses Thema" beziehungsweise "Da kann man nichts machen, das ist eben so" vorzeitig beendet, so zeigt sich seit den Demonstrationen ein nahezu konträres Bild.
Die Unzufriedenheit mit der Republikanischen Partei habe schon lange tiefe Wurzeln, meint Armen Ghazaryan, Lehrbeauftragter für Politikwissenschaft an der American University of Armenia. Wahlen seien über Jahre keine tatsächliche Demonstration der Legitimität gewesen, da die Partei tief im staatlichen System verankert, der öffentliche Dienst von Mitgliedern und Familienangehörigen durchwachsen sei sowie Bestechungsgelder oder andere Mechanismen des Wahlbetrugs Anwendung gefunden hätten. Sämtliche Praktiken sowie unzählige konkrete Fälle der Wahlbeeinflussung seien offene Geheimnisse in Armenien. Doch genau dieser Umstand schien bis vor kurzem den größten Teil der Bevölkerung in einen Zustand der Machtlosigkeit und Resignation versetzt zu haben.
Vertreibung der Kleptokraten
Im Wesentlichen verantwortlich für die gegenwärtige Veränderung sei die Kluft zwischen einer aktiven, offenen Zivilgesellschaft mit oppositionellen Inhalten und Websites einerseits sowie einer tendenziell nach außen hin geschlossenen Regierungsausübung andererseits, meint Mikaelyan. Als Ministerpräsident Serge Sargsian einen Tag vor seinem Rücktritt am 23. April noch mahnend die Ereignisse des 1. März 2008, die niedergeschlagene Demonstration aufgrund seiner von Wahlbetrug überschatteten Wahl zum Präsidenten mit zehn Toten, in Erinnerung rief, war für viele eine rote Linie überschritten. Die angedrohte Gewalt, aber gleichzeitige Machtlosigkeit der Autoritäten, die ohnehin bereits über wenig Rückhalt in der Bevölkerung verfügten, führte zu einem weiteren Anstieg der Zahl der Demonstranten.
Der Erfolg der großteils friedlichen Protestbewegung, die neben dem Oppositionsführer Nikol Pashinian als deren Galionsfigur noch zahlreiche weitere beliebte und als glaubwürdig angesehene Personen des politischen und öffentlichen Lebens umfasst, lässt sich auch dadurch erklären, dass sie die allseits bekannten Missstände eindeutig zum Ausdruck bringt. Pashinian sei einer von ihnen und keineswegs kompromittierbar. Letztendlich gehe es aber nicht um ihn als Premierminister, so der allgemeine Tenor, sondern in erster Linie um die Vertreibung der republikanischen Kleptokraten.
Der Slogan "Republikaner verschwindet" ist auf unzähligen Transparenten zu lesen, avancierte aber auch zur gewöhnlichen Begleitmusik an den zeitlich strikt durchorganisierten Streik- und Protesttagen. An diesen verwandelt sich Jerewans Zentrum in eine enorme Fußgängerzone, da tagsüber vor allem junge Menschen die Straßen blockieren. "Furchtlos" seien sie, so verkünden es ihre Kappen. Nikol sei einer von ihnen, sagt eine Studentin. Doch wenn es ihn nicht gäbe, würden sie eben jemand anderen unterstützen, Hauptsache, die Republikaner verschwinden, meint sie, bevor sie sich wieder dem Volleyballspielen zuwendet.
An dieser gesperrten Kreuzung dominiert darüber hinaus eine andere Hintergrundmusik - nebenan lässt ein kleines jugendliches Streichorchester, umringt von vielen Zuhörern, den armenischen Komponisten Komitas Vardapet ertönen.