Lettlands Ex-Präsidentin Vaira Vike-Freiberga sorgt sich um ihre Heimat und Wladimir Putins neue Art von Krieg.
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"Wiener Zeitung": Einige europäische Staaten, darunter Ihre Heimat Lettland, sind sehr besorgt aufgrund der Krise in der Ukraine. Was ist Ihr Rat an die EU, wie sollen wir mit Russlands Präsidenten Wladimir Putin umgehen?Vaira Vike-Freiberga: Das ist eine der großen Fragen für mindestens die kommenden zehn Jahre. Wie können wir mit einer Person umgehen, die in systematischer und geplanter Weise eine Vision Russlands und seiner Position in der Welt hat, die sich mehr und mehr von dem Konzept entfernt, das nach dem Kollaps der Sowjetunion von allen akzeptiert war? Die Haltung im Westen war damals, dass wir - als vormals von der Sowjetunion annektierte Länder - lobbyieren mussten, damit uns erlaubt wird, zur westlichen Gemeinschaft zurückzukehren. Man fürchtete, Russland könne zornig werden. Ich versichere Ihnen, dass das Russland unter Ex-Präsident Boris Jelzin komplett anders agierte. Es ist wichtig, die Welt daran zu erinnern, dass Russland damals die Ukraine anerkannte und ihre territoriale Integrität garantierte. Russland unterzeichnete mit den westlichen Alliierten sogar ein Abkommen, die Souveränität und Unabhängigkeit der Ukraine zu garantieren. Dafür gaben die Ukrainer ihr großes Atomwaffen-Arsenal auf. Nun hören wir das Argument, dass wir vorsichtig sein müssen. Die Ukrainer dürfen ebenso wenig wie die Letten und ihre Nachbarn etwas tun, das die Russen ärgern könnte, weil sie Atomwaffen haben.
Wie hat Putin Russlands Politik verändert?
Fakt ist, dass in Russland der Präsident entscheidet. Dieser Richtungswechsel war eine Veranlassung des Präsidenten. Unglücklicherweise weicht der neue Kurs stark von dem Jelzins ab. Damals hofften wir, dass aus Russland ein Land wird, das die Fesseln des Totalitarismus abwirft. Das im Westen manchmal kolportierte Bild vom mystischen Russland hatte nichts mit der Wirklichkeit zu tun. Die Sowjetunion war ein multinationales Imperium. Dieses Gebilde war totalitär, wurde von vielen Menschen abgelehnt und letztlich gestürzt. Damals gab es die Hoffnung, dass auch das russische Volk versteht, was Freiheit bedeutet. Nun, sie haben sich leider davon entfernt.
Putin sagte sinngemäß, überall, wo Russen sind, ist Russland...
Es scheint als wäre Herr Putin mit einer völlig neuen Doktrin aufgetaucht, die uns, würde sie wörtlich genommen, eine Welt in totalem Chaos und Blutvergießen bringen würde.
Ihr Land hat eine russische Minderheit von etwa 26 Prozent. Das ist ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung. Was bedeutet das für die Beziehung der lettischen Letten mit den russischen Letten?
So wie Putin nun seine Doktrin umrahmt hat, braucht es nur ein paar Provokateure, die eine Demonstration starten. Die muss gar nicht einmal beeindruckend sein, um zu sagen: "Oh, unsere Leute dort werden unterdrückt" und um einzumarschieren. Mit dieser Haltung könnten sie einfach so mit Mann und Maus einmarschieren.
Im Westen gibt es auch Stimmen, die sagen: "Vielleicht war es unser Fehler, vielleicht haben wir etwas falsch gemacht." Hätte der Westen etwas anders machen sollen?
Dieses wunderbare Gefühl der Schuld und Selbstgeißelung habe ich in der Geschichte noch von niemandem gesehen. Ich frage mich, wo diese Ideen herkommen. Unsere Länder haben unter großen Bemühungen ihre Freiheit erlangt. In meinem Land gab es wie in Polen oder Tschechien riesige soziale Kosten dieses enormen Wechsels von verordnetem Kommunismus zu frei gewähltem Kapitalismus. Viele Leute haben darunter gelitten und unsere Einkommen haben in 20 Jahren noch nicht das Niveau wohlhabender westlicher Länder erreicht. Ist das unsere Schuld? Weil wir am Leben sind? Warum sollte sich jeder schuldig fühlen?
Wenn Sie an die Zukunft denken: Wie, glauben Sie, werden die nächsten zehn Jahre aussehen? Bewegen wir uns zurück in Richtung eines neuen Kalten Krieges?
Oh nein. Das ist kein Kalter Krieg mehr. Seit sie mit Panzern in Georgien einmarschiert sind, ist das kein Kalter Krieg mehr. Alle sind besorgt wegen eines Kalten Kriegs, ich bin besorgt wegen eines heißen Kriegs. Der Einmarsch in Georgien 2008 war ein Warnschuss. Die Besetzung der Krim war eine neue Art von Krieg: Diese kleinen grünen Männer, die auftauchen und ein Land von einem Tag auf den anderen übernehmen. Und das annektierende Land sagt: "Wir haben überhaupt nichts gemacht, es ist einfach auf mysteriöse Weise passiert." Und alle sagen: "Ja, so wird es wohl sein, vermutlich haben sie das Recht dazu." Wenn wir auf diese Weise weitermachen, stecken wir in großen Schwierigkeiten.
Zur Person
Vaira Vike-Freiberga
wurde am 1. Dezember 1937
in Riga geboren. Sie war von
1999 bis 2007 Präsidentin der Republik Lettland und wurde im Juli 2007 von Valdis Zatlers abgelöst. Die parteilose Staatschefin sorgte für eine klare Westorientierung des baltischen Staates und bemühte sich um
den EU-Beitritt ihres Landes. Heute ist sie stellvertretende Vorsitzende der Reflexionsgruppe der EU. Sie nahm an der Tagung "1814, 1914, 2014" des Salzburg Global Seminars und des International Peace Institutes in Salzburg teil.