Die lange erwartete Gegenoffensive nimmt offenbar Fahrt auf. Die Ukrainer vermelden erste kleinere Erfolge, doch es gibt auch Verluste. Bundesheer-Experte Bernhard Gruber sieht nicht zuletzt die fehlende Luftüberlegenheit als Problem an.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 1 Jahr in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Auf den Social-Media-Kanälen der ukrainischen Armee war es zuletzt ungewöhnlich still gewesen. Das Verteidigungsministerium in Kiew veröffentlichte in den vergangenen beiden Wochen zwar einige Bilder aus den nach der Zerstörung des Kachowka-Staudamms überfluteten Gebieten in Cherson, doch die sonst so häufig geposteten Videos von startenden Himars-Raketen oder Lenkwaffen-Angriffen auf russische Panzer fehlten völlig. Als einzigen Hinweis auf die Lage an den einzelnen Frontabschnitten gab es auf dem Twitter-Konto nur ein kurzes Video zu sehen, in dem ukrainische Soldaten mit einem "Ssssshh" den Zeigerfinger auf ihre Lippen legen - also die Aufforderung, die eigenen Operationen nicht durch die unbedachte Weitergabe von Informationen zu gefährden.
Mit den ersten kleineren Erfolgen der nun offensichtlich an Fahrt gewinnenden ukrainischen Gegenoffensive scheint die Regierung in Kiew jetzt aber die bisher so konsequent eingehaltene Nachrichtensperre ein Stück weit zu lockern. Vize-Verteidigungsministerin Hanna Maljar veröffentlichte am Montag ein Foto, das Soldaten zeigen soll, die im zurückeroberten südostukrainischen Dorf Storoschewe die blau-gelbe Flagge hissen. Bereits am Sonntag hatte die ukrainische Armee nach eigenen Angaben die ein paar Kilometer weiter nördlich liegenden Dörfer Blahodatne, Neskuchne und Makariwka eingenommen.
"Russen gut organisiert"
Schwere Gefechte soll es seit dem Wochenende auch in drei weiteren Frontabschnitten gegeben haben. So hat die Ukraine offenbar nördlich von Bachmut einen Angriff gestartet, um die Straßen, die von der völlig zerstörten Stadt nach Slowjansk und Siwersk führen, unter ihre Kontrolle zu bringen. Aus Bilohoriwka im Oblast Luhansk und im südlich von Bachmut gelegenen Awdijiwka wurden ebenfalls Zusammenstöße von ukrainischen und russischen Einheiten gemeldet.
Die Vertreibung der russischen Truppen aus Storoschewe und den drei anderen im Oblast Donezk gelegenen Dörfern stellt den weitreichendsten Geländegewinn der ukrainischen Armee seit der Rückeroberung der Provinzhauptstadt Cherson im vergangenen November dar. Bei dem knapp fünf Kilometer weiten Vorstoß Richtung Süden dürfte es sich nach Ansicht westlicher Militärexperten aber derzeit noch um eine vergleichsweise beschränkte Operation handeln. "Die Offensive hat ganz eindeutig begonnen, aber ich bin der Meinung, dass das nicht der Hauptangriff ist", schreibt Ben Hodges, der ehemalige Kommandant der US-Armee in Europa in einer Analyse für die US-Denkfabrik Center for European Policy Analysis. "Am eigentlichen Großangriff werden wohl hunderte gepanzerte Fahrzeuge teilnehmen."
Ohne geballte Übermacht an den betreffenden Frontabschnitten dürfte es für die Ukraine schwierig werden, ähnlich große Gebietsgewinne wie bei den erfolgreichen Gegenoffensiven in Cherson und Charkiw zu erzielen. Denn anders als im vergangenen Jahr, als die Ukraine die gegnerischen Truppen mit schnellen Vorstößen teils regelrecht überrannt hatte, sind die russischen Verteidigungslinien heute tief gestaffelt und durch großflächige Minengürtel geschützt. "Die Russen sind hier gut organisiert", sagt Oberst Bernhard Gruber, Ukraine-Experte beim österreichischen Bundesheer, der "Wiener Zeitung": "Das ist kein Spaziergang."
Grubers Einschätzung zufolge dürfte der Ukraine beim Versuch, die gegnerischen Verteidigungslinien zu durchbrechen, vor allem die nicht vorhandene Luftüberlegenheit zu schaffen machen. Denn um die eigenen Truppen bei Offensivoperationen vor russischen Luftangriffen zu schützen, müsste die ukrainischen Militärführung Luftverteidigungssysteme beim Vormarsch mitziehen. "Diese fehlen dann aber bei der Verteidigung der Städte", erläutert Gruber. "Und diese werden von Russland nach wie vor mit Raketen angegriffen."
Minenräumpanzer zerstört
Dass die Ukraine trotz moderner westlicher Waffen bei Angriffen auf die gut befestigten russischen Verteidigungslinien verwundbar ist, hatte sich bereits am Wochenende gezeigt. So wurden laut der finnischen Tageszeitung "Helsingin Sanomat" in der Region Saporischja neben mehreren anderen gepanzerten Fahrzeugen offenbar auch drei von Finnland gelieferte Leopard-2R-Minenräumpanzer zerstört.
"Das sind sehr wertvolle Systeme", erklärt Bundesheer-Experte Gruber. "Minenräumgeräte sind nur schwer verfügbar und lassen sich daher auch nicht so leicht ersetzen."