Der Präsident des Europäischen Forums Alpbach über Fred Sinowatz, Komplexität, | was man von der Natur lernen kann und warum Alpbach auch nach 70 Jahren relevant ist.
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"Wiener Zeitung": Das Europäische Forum Alpbach beschäftigt sich in diesem Jahr mit dem Thema "Soziale Ungleichheit". Sie wollen heute aber über Komplexität reden. Der frühere Bundeskanzler Fred Sinowatz hat einmal gesagt: "Es ist alles kompliziert." Dieser Ausspruch hat sich tief ins politische Gedächtnis dieses Landes eingegraben hat.
Franz Fischler: Sinowatz hatte recht. Es ist alles sehr kompliziert, das ist schon völlig richtig. Der Fehler von Fred Sinowatz war, dass er diesen Satz auf eine Weise zum Ausdruck gebracht hat, als stünde er völlig hilflos dieser Kompliziertheit gegenüber und wisse nicht, wie er mit dieser Kompliziertheit umgehen soll. Aber genau das müssen wir lernen. Mit der Komplexität der Welt zu leben.
Das ist aber gar nicht so einfach. Da lauern bekanntlich eine Menge Fallstricke.
Etwa die sogenannte Durchschnittsfalle. Es gibt wenig unsinnigere Werte als Durchschnittswerte, die in Wahrheit überhaupt nichts aussagen. Wir müssen da ein wenig weiterdenken: Eine Verteilungskurve sagt viel mehr aus als ein Durchschnittswert.
Ein anderes Problem: Das menschliche Gehirn ist darauf programmiert, Muster zu erkennen. Der philosophische Essayist Nassim Nicolas Taleb nennt uns Menschen "Narren des Zufalls". Wir sehen Muster und Notwenigkeit, wo nichts als schierer Zufall herrscht.
Warum ist das so?
Unser Speicher- und Rechenorgan - das Hirn - ist nicht dazu konstruiert, große Datenmengen in vernünftiger Weise zu verarbeiten. Wir haben aber heute mit unseren Computersystemen eine gigantische Rechenleistung zur Verfügung. Was wir brauchen, ist ein kreativer Umgang mit diesen Systemen: Für welche Fragestellungen setzen wir Computer ein? Welche Antworten erhoffen wir uns? Wenn wir das nicht machen, bekommen wir falsche Antworten auf falsche Fragen.
Der Vorsitzende der chinesischen Kommunistischen Partei, Mao Zedong, hat 1958 in der Massenkampagne "Ausrottung der vier Plagen" einen Feldzug gegen Spatzen gestartet, weil sie angeblich zu viel von den Feldern stibitzen. Die Folge war eine schlimme Insektenplage.
Sehen Sie: Wir haben große Schwierigkeiten zu erfassen, wie die Dinge zusammenhängen. Oder: In der Chemie ist es selbstverständlich, dass es sogenannte gepufferte Systeme gibt. Das ist wie bei einem Fass, von dem ich nicht weiß, wann es voll ist. Ich lasse Wasser hineinlaufen und lange Zeit passiert genau gar nichts. Doch plötzlich läuft das Fass über. Das ist sehr gefährlich, weil es kein Alarmsignal gibt. Ein weiteres Beispiel ist das Gesetz des Minimums. Das stammt aus der Landwirtschaft, der deutsche Chemiker Justus von Liebig hat es zum ersten Mal beschrieben. Es geht darum, dass eine Pflanze eine Reihe von Bedürfnissen hat, die man versucht, mit Düngern zu befriedigen. Liebig sah, dass es gar nichts nützt, wenn man das Angebot eines Nährstoffs immer weiter erhöht, wenn irgendwo ein anderer Nährstoff - und sei es nur ein Spurenelement - zu wenig angeboten wird. Die Pflanze wird so lange in ihrer Entwicklung gehemmt, bis dieses kleinste Bedürfnis befriedigt wird. In der Natur können wir interessante, für uns relevante Beobachtungen machen. So etwa auch diese: Wenn sich der Stress auf natürliche Systeme erhöht, dann steigt die Anzahl der Mutationen, die Evolution schaltet dann gleichsam auf den Turbo um.
Das komplexeste Problem, das Sie in Ihrer Karriere lösen mussten, war BSE - Rinderwahn. Sie waren damals Landwirtschaftskommissar in Brüssel.
Die Briten - dort ist Bovine spongiforme Enzephalopathie, also BSE erstmals aufgetreten - haben das Problem lange falsch eingeschätzt. Sie haben geglaubt, dass BSE nichts anderes ist als eine Krankheit, die es schon seit Jahrhunderten bei Schafen gibt - Scrapie - und die eben auf Rinder übertragen wurde. Scrapie ist nicht auf Menschen übertragbar, also schloss man, dass BSE so etwas wie Rinderscrapie und nicht weiter dramatisch ist. Bis man dann BSE-verseuchtes Rinderhirn an Schafe verfüttert hat. Die haben dann nicht wie eigentlich erwartet Scrapie, sondern BSE bekommen. Da haben dann die Alarmglocken geschrillt. Für mich stellte sich dann folgendes Problem: Wir haben natürlich sofort die besten Teams, die zum Thema BSE und Prionen - fehlgebildete Eiweißkörper - geforscht haben, nach Brüssel geholt und gesagt, wir brauchen eiligst diese und jene Erkenntnisse über BSE. Von den BSE-Forschungsprogrammen, die man uns dann vorgeschlagen hat, dauerte das kürzeste fünf und das längste 15 Jahre. Darauf sagte ich: "Das ist ja alles ganz interessant, hilft uns aber in unserer Situation genau gar nichts." Also mussten wir mit dem Hausverstand Lösungen erarbeiten. Glücklicherweise mussten wir keine einzige verhängte Maßnahme je zurücknehmen, die wissenschaftlichen Erkenntnisse, die dann nach und nach bekannt wurden, haben uns recht gegeben.
Ein weiterer Fehler, der Menschen oft bei ihren Entscheidungen unterläuft, rührt von der sogenannten loss aversion - Verlustaversion - her, nämlich jener Tendenz, Verluste höher zu gewichten als Gewinne. Beispielsweise ärgert man sich über den Verlust von 100 Euro mehr, als man sich über den Gewinn von 100 Euro freut. Oder die Prokrastination, das Aufschieben von Entscheidungen: Ein Grund ist, dass man die Kosten einer Entscheidung - etwa in der Politik oder in einem Unternehmen - gut einschätzen kann, aber nicht die Kosten, die anfallen werden, wenn man diese Entscheidung nicht fällt.
Oder den hier: Militärs des Generalstabs macht man ja oft den Vorwurf, sie würden stets den vergangenen Krieg führen. Oder ein höchst aktuelles anderes Beispiel: das Mantra-Problem. Damit meine ich, das eine Aussage durch ständiges Wiederholen nicht wahrer wird. Man sagt doch immer - und das ist in unseren aktuellen Griechenland-Debatten relevant -, dass die Europäische Union noch aus jeder Krise gestärkt hervorgegangen ist. Diese simple Schlussfolgerung hat aber keine Substanz. Denn nur weil etwas in der Vergangenheit stets so war, heißt nicht, dass das auch in Zukunft so sein muss.
Darum muss bei Finanz-Produkt-Prospekten immer im Kleingedruckten stehen: Die Performance der Vergangenheit stellt keine Garantie für die künftige Wertentwicklung dar.
Genau. Wir brauchen in den Diskussionen mehr Raum für Kreativität. Punkt zwei: In der wissenschaftlichen Debatte in Alpbach muss man das Thema Komplexität zur Sprache bringen und darüber diskutieren. Komplexität stellt auch eine Herausforderung für das Bildungssystem dar: Wir müssen den Fokus mehr auf die Aneignung von Problemlösungs-Fertigkeiten legen, bloßer Wissenserwerb ist zu wenig.
Um ein konkretes komplexes Beispiel der derzeitigen Politik anzusprechen: Der australische Politikwissenschafter John Keane spricht von der "Überwachungsdemokratie", in der die verschiedenen Institutionen und die Öffentlichkeit die Politik überwacht. Und der bulgarische Politologe Ivan Krastev kritisiert, dass das Volk das Vertrauen in die Politik verloren hat und die Politik dem Volk misstraut - Stichwort: Bespitzelung. Die Medien werden von manchen Bevölkerungsschichten als "Lügenpresse" hingestellt.
Die Enttäuschung in der Politik ist schwierig zu therapieren. Wenn Ihnen niemand mehr vertraut, dann müssen Sie ständig beweisen, dass es keinen Grund gibt, Ihnen nicht zu vertrauen. Vertrauen ist schnell verspielt, doch es wiederzugewinnen, dauert eine Weile.
Im August 1945 wurde das Europäische Forum von Otto Molden und Simon Moser als Europäische Hochschulwochen gegründet. Was an der Idee von damals ist heute noch relevant?
Wir haben logischerweise für das Europäische Forum Alpbach 2015 genau darüber nachgedacht. Es gibt Anleihen, die wir nehmen können: So werden wir etwa die kreativen Kräfte wieder stärker ins Forum einbeziehen. Die Gründer haben in den Hochschulwochen eine Plattform gesehen, wo junge Studenten mit arrivierten Forschern auf Augenhöhe diskutieren können. Man hat damals in Alpbach für diese Zeit im Sommer eine egalitäre Gesellschaft geschaffen. Die Professoren haben damals an den Unis vom Katheder herunter gelehrt und plötzlich saß der Professor in Alpbach in der Gaststube und man konnte sich dazusetzen und mit ihm diskutieren. Das war damals eine Revolution.
Wir werden uns auch darüber unterhalten, wie wir komplexe wissenschaftliche Fragestellungen von enormer politischer und ökonomischer Tragweite einer breiten Öffentlichkeit vermitteln - Stichwort: Klimawandel. 2013 haben wir die Alpbach-Laxenburg-Gruppe aus der Taufe gehoben. Seither arbeiten wir sehr eng mit dem Institut für angewandte Systemanalyse (International Institute for Applied Systems Analysis, Anm.) IIASA in Laxenburg zusammen. Damals wie heute ist Alpbach an der Schnittstelle Wissenschaft und Gesellschaft.
Franz Fischler war Bundesminister für Land- und Forstwirtschaft (ÖVP) und EU-Kommissar für Landwirtschaft, Entwicklung des ländlichen Raumes und Fischerei. Von 2005 bis 2011 war der aus Absam in Tirol stammende Politiker Präsident des Ökosozialen Forums, seit 20. März 2012 ist er Präsident des Europäischen Forums Alpbach, wo er dem früheren Vizekanzler Erhard Busek folgte, der dieses Amt vom Jahr 2000 bis zum Jahr 2012 innehatte. Als Präsident des Europäischen Forums setzte er die bereits von Erhard Busek eingeleitete politische Öffnung und Internationalisierung fort. Fischler knüpfte engere Kontakte zum Internationalen Institut für angewandte Systemanalyse (IIASA) in Laxenburg und rief Initiativen wie etwa "Re:think Austria" ins Leben. Das Europäische Forum Alpbach findet heuer zum 70. Mal statt, das Forum läuft heuer vom 19. August bis 4. September.