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"Das ist wie auf dem Basar"

Von Siobhán Geets

Politik
"Wir müssen die Türkei an Europa binden": Jana Jabbour im Wiener Hotel de France.
© Stanislav Jenis

Europa muss seinen Umgang mit Ankara ändern, sagt die libanesisch-französische Politologin Jana Jabbour. Sie erklärt, wie die EU mit Menschenrechtsverletzungen in der Türkei umgehen soll.


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"Wiener Zeitung": EU und Türkei sind sich im Flüchtlingsdeal einig geworden. Was bedeutet das für ihre Beziehungen?

Jana Jabbour: Die EU könnte sehr von einer Partnerschaft mit der Türkei profitieren. In Europa wird die Türkei gern missverstanden. Europäer glauben, dass die islamische AKP-Regierung dafür verantwortlich ist, dass die Türkei der EU und dem gesamten Westen den Rücken gekehrt hat und sich nun auf die arabisch-muslimische Welt konzentriert. Das stimmt nicht. Die Türkei ist eine wachsende Macht, die nach Status, Einfluss und internationaler Anerkennung strebt. Sie versucht, den Nahen Osten zu instrumentalisieren, um ihren eigenen strategisch-politischen Wert für den Westen sowie die Chancen auf eine EU-Mitgliedschaft zu erhöhen.

Ist das wirklich nach wie vor das Ziel der türkischen Politik?

Premier Ahmet Davutoglu hat bereits 2001 in seinem Buch "Strategic Depth" geschrieben, dass die Türkei ihre Rolle im Nahen Osten durch die Metapher des Bogenschießens verstehen muss: Je mehr sie im Nahen Osten anzieht, desto stärker ist ihr Einfluss in Europa. In den Köpfen der türkischen Entscheidungsträger gibt es eine dialektische Beziehung zwischen dem Status der Türkei in der Region und den Chancen auf EU-Mitgliedschaft. Der Plan ist nach hinten losgegangen: Je mehr Ankara sich im arabischen Raum engagiert, desto mehr wird es in Europa als islamische Macht im Nahen Osten porträtiert.

Die Türkei spielt dort eine ambivalente Rolle...

Europa stigmatisiert die Türkei, Präsident Recep Tayyip Erdogan wird verunglimpft - dieses Türkei-Bashing ist kontraproduktiv und drängt Ankara geradezu zu irrationalen politischen Aktionen. Ich sage nicht, dass die Türkei in die EU integriert werden sollte - Europa hat gute Gründe, das Land nicht als Mitgliedstaat zu akzeptieren. Aber wir müssen die Türkei als Partner anerkennen und ihr einen speziellen Status zugestehen, um sie an Europa zu binden. So könnte Europa seinen Einfluss im Nahen Osten erhöhen und die Türkei in zu einer liberaleren Politik bewegen.

Wie sollen wir mit den zahlreichen Menschenrechtsverletzungen in der Türkei umgehen?

Der Autoritätsanspruch Erdogans ist in einem größeren Zusammenhang zu sehen. Es gibt eine starke Verbindung zwischen Ankaras Innen- und Außenpolitik. Die Türkei fühlt sich im Nahen Osten umzingelt. Das führt zur autoritären Innenpolitik. Die Regierung pflegt die Vorstellung einer internationalen Verschwörung: Niemand mag uns, nicht die USA, nicht Europa, nicht die Region. Deshalb veranstaltet die Regierung eine Hexenjagd gegen jeden, der gegen die AKP oder die Rolle der Türkei insgesamt sein könnte.

So wie gegen die Kurden?

Mit Beginn der Arabischen Revolutionen haben die Kurden in Syrien und in der Türkei versucht, das regionale Chaos und das Machtvakuum zu nutzen, um ihre Unabhängigkeit auszubauen oder zu festigen. Seit Sommer 2014 haben die Kurden in Syrien große Gebietsgewinne verzeichnet. Heute haben sie bereits de facto ein unabhängiges Gebiet in Nordsyrien. In Ankara beobachtet man das mit großer Sorge, ich nenne das das Sevres-Syndrom. Der Vertrag von Sevres hat die Türkei nach dem Ersten Weltkrieg deutlich verkleinert, sie verlor die arabischen Provinzen. Seither herrscht die Angst, dass Mächte von außerhalb die territoriale Integrität der Türkei und damit auch die nationale Sicherheit bedrohen. Die Türken befürchten, dass die Unabhängigkeit der syrischen Kurden einen Dominoeffekt auslöst.

Kann das zu einem Großkurdistan führen, das sich über die Türkei, Syrien und den Irak erstreckt?

Ich denke nicht. Die syrischen Kurden haben kein Interesse daran, sich mit den anderen zusammenzutun. Die Kurden im Irak teilen nicht die Geschichte anderer Kurden der Region, sie verstehen sich auch sprachlich nicht. Im kurdisch-irakischen Erbil blickt man auf die anderen Kurden herab, man will nicht, dass Geflohene aus Syrien von dem profitieren, was sich die irakischen Kurden so lange aufgebaut haben. Zudem sind die irakischen Kurden nicht bereit, ihre exzellenten Beziehungen zur Türkei zu opfern. Ihre Exporte sind von der Türkei abhängig, durch die ihr Öl fließt. Türkische Unternehmer betreiben Hotels, bauen Autobahnen. Es wäre sehr irrational, all das aufzugeben.

Werden es also drei Kurdistans sein?

Ich denke schon. Im Norden Syriens ist die kurdische Region schon von den Russen und Amerikanern anerkannt. Kommt es zu einer Neuaufteilung Syriens, dann werden die Kurden ihren eigenen Staat bekommen.

Auch in der Türkei?

Ja. Das wird sehr gewalttätig, aber es wird passieren. Das Militär wird das selbstverständlich nicht akzeptieren und es wird zu einem Bürgerkrieg kommen.

Die EU muss jetzt mit der Türkei zusammenarbeiten. Wie sollen wir uns in der Krise mit den Kurden positionieren?

Europa sollte eine ausgewogenere Position beziehen. Heute gibt sich die EU als Unterstützer der Kurden, ohne die nationalen Interessen der Türkei in Betracht zu ziehen. Es gibt ja auch sehr radikale, marxistische und gewalttätige Gruppen wie die PKK in der Türkei oder ihr syrischer Ableger, die YPG. Zweitens sollte Europa, um seinen Werten treu zu bleiben, keinen Tausch mit der Türkei eingehen, nach dem Motto: Ihr löst unser Flüchtlingsproblem und wir geben euch ein paar Geschenke. Das ist wie auf dem Basar und sehr schlecht für Europas Image. Wir sollten zwar Bedingungen setzen, aber im Gegenzug ernsthaft neue Kapital in der EU-Annäherung der Türkei öffnen. Die osteuropäischen Länder haben zwar später mit der Annäherung an die EU begonnen, sind aber sehr schnell beigetreten. Dabei waren sie damals nicht demokratischer als die Türkei. Die Türken empfinden das als Doppelmoral, sie denken: Die Europäer hassen uns. Das befeuert die EU-Skepsis. Die Türken sind ein sehr nationalistisches, stolzes Volk. Sie fühlen sich von der EU gedemütigt.

Sind die Menschen überhaupt noch für einen Beitritt?

Ich denke, sie sind entschlossener denn je, ein Teil Europas sein zu wollen. Für Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk bedeutete Modernisierung im Endeffekt Europäisierung. Diese Idee findet sich bis heute in den Köpfen vieler. Je mehr man diese Menschen erniedrigt und ablehnt, desto größer wird ihr Hass auf Europa.

Jana Jabbour, geboren im libanesischen Tripoli, lehrt am Pariser Institut für Politikwissenschaften und an der Saint Joseph Universität in Beirut. Die Expertin für den Nahen Osten sowie für türkische Außenpolitik ist Mitgründerin des Internet-Senders Samar Media, der sich auf die arabische Welt konzentriert. In Wien war sie als Gast der Österreichischen Gesellschaft für Außenpolitik und die Vereinten Nationen (ÖGAVN).