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Das Jahrtausend der Städte

Von Gregor Kucera

Wissen

Im Jahr 2050 werden mehr als zwei Drittel der Menschheit in Städten leben, sagen Experten. Diese Entwicklung wirft eine Reihe von Fragen und Problemen auf. Wie werden wir in Zukunft wohnen? Welche Herausforderungen müssen die Megacities meistern und welche technischen Innovationen sind in den kommenden Jahrzehnten zu erwarten?


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Songdo, eine Planstadt in Korea, die bis 2020 fertiggestellt sein soll.
© © Topic Photo Agency/Corbis

Flugmaschinen, die sich in Sekunden von einer Art Helikopter in ein Auto verwandeln, Schuhe, die mit den öffentlichen Verkehrsmitteln kommunizieren können und interaktive Werbeplakate, die nicht nur ihr Gesicht, sondern auch ihre persönlichen Vorlieben kennen. Klingt nach Zukunftsmusik? Ist es auch. Noch. Denn schon heute werden die Weichen für die Stadt der Zukunft gestellt und entsprechende Forschungsprojekte gestartet.

Kennen sie Chongqing? Oder New Songdo City und Masdar City? Nein? Dann aber sicherlich Morgenstadt, Friedrichshafen oder die Seestadt Aspern? Was haben alle diese Plätze gemein? Sie geben heute schon einen Einblick in die Stadt der Zukunft. Ob es sich nun um die Megametropolen in Asien handelt oder Kleinstädte beziehungsweise neue Stadtentwicklungsprogramme, die Probleme und Herausforderungen sind stets die gleichen: Mobilität, Energieversorgung, Infrastruktur und Nachhaltigkeit. So lauten die Aufgaben, die die Menschheit in den kommenden Jahren lösen muss, will man den aktuellen Entwicklungen Rechnung tragen.

Der frühere UN-Generalsekretär Kofi Annan bezeichnete die aktuellen Entwicklungen als Startphase in der "Ära der Metropolen" und Anbeginn des "Jahrtausends der Städte". Derzeit leben mehr als drei Milliarden Menschen im urbanen Bereich. Bis 2050 sollen nicht weniger als zwei Drittel der Bevölkerung in Städten leben, so die Prognosen der Vereinten Nationen. Die Menschheit scheint sich entschieden zu haben - gegen das Leben auf dem Land und für die Stadt. Doch schon jetzt haben mehr als 900 Millionen Menschen keinen Zugang zu sauberem Wasser, sorgen Stromausfälle in Kalifornien für Probleme und führen Ghettobildungen und wachsende Slumgebiete zu sozialen Problemen und großer Ungerechtigkeit in den Städten.

Die Zukunft beginnt heute. Auch in Wien wird die Zahl der Haushalte in den kommenden Jahrzehnten konstant anwachsen. Laut aktuellen Prognosen der Statistik Austria wird die Einwohnerzahl Öster-reichs von derzeit 8,4 Millionen auf 9 Millionen im Jahr 2030 und fast 9,5 Millionen im Jahr 2050 anwachsen. In diesem Jahr wird Wien die 2-Millionen-Grenze überschreiten. Dieses Wachstum verlangt nach rund 45.000 bis 55.000 Neubauwohnungen pro Jahr, berichten Experten im Rahmen der diesjährigen Gespräche beim Forum Alpbach. Die Schaffung neuer Stadtviertel und eine umfassende Planung und Erschließung neuer Wohngebiete sind zentrale Anforderungen an die Fachleute. Anhand aktueller Wiener Wohnbauprojekte zeigen sich die großen Herausforderungen der Zukunft. So wird die Seestadt Aspern mit Geothermie, also Wärme aus der Erdkruste, beheizt. Die ehemaligen Nordbahngründe läuten mit einer "Bike&Swim"-Anlage die neue Mobilität ein. Fahrräder und Sportmöglichkeiten statt Tiefgaragen und verbauten Megakomplexen.

Mobilität und Verkehr sind auch die großen Herausforderungen der Megametropolen der Welt. Dabei sind nicht nur Themen wie Energieverbrauch, drohender Erdölmangel oder Umweltverschmutzung zu berücksichtigen, sondern auch schlicht und einfach Platzmangel. Wenn Parkplätze zum Luxusgut werden, wird auch das Auto ein nahezu unleistbares Statussymbol. Bis die Menschen aber mit fliegenden Autos, "Hooverskateboards" wie in "Zurück in die Zukunft" oder Raumschiffen durch die Hochhausskylines segeln werden, bedarf es anderer Alternativen. Leihautos, Car-Sharing-Konzepte, Elektrofahrräder und Elektroautos, Magnet-Hochbahnen oder Schwebebahnen sollen Millionen Menschen von Punkt A nach B und wieder zurück bringen.

Seestadt Aspern
© © schreinerkastler

Die Zukunft der Mobilität in Städten liegt somit verstärkt in der gemeinschaftlichen Nutzung aller Mobilitätsressourcen. Daher muss auch die Entwicklung bedarfsgerechter Innovationen für die elektromobile Stadt im Vordergrund stehen. Es zeigt sich aber auch, dass die Städteplaner den Aktionsradius der Stadtbevölkerung deutlich eingeschränkt betrachten. Man wird näher zum Arbeitsplatz wohnen und auch die entsprechende Nahversorgungsinfrastruktur in Fußreichweite haben, so die Experten.

Hinter der Vision "Morgenstadt" entwickelt das Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation IAO Planungswerkzeuge, Integrations- und Umsetzungsprozesse, Dienstleistungsmodelle und Technologiekonzepte in verschiedenen Forschungsfeldern für zukunftsweisende Städte und Regionen. Ein zentrales Element in der Stadt der Zukunft sind die urbane Produktion und geschlossene Ressourcenkreisläufe. Die Stadt soll nicht nur Energie verbrauchen, sondern diese vielmehr auch selbst herstellen. Fassadenfarben, die Umweltgifte ausfiltern oder CO2 abbauen, Dachgärten,

die die Hochhausbewohner mit Nahrungsmitteln versorgen, begrünte Fassaden, Niedrigenergiebauweise und in sich geschlossene, autarke Kreisläufe. Nicht nur die Verkehrsinfrastruktur wird maßgeblich für das Wachstum der Städte sein, sondern auch die technologische Infrastruktur. Wie dies im Kleinen aussehen kann, zeigt seit Jahren die Stadt Friedrichshafen am Bodensee. Die "T-City" ist eine reale Forschungs- und Testumgebung für die deutsche Telekom beziehungsweise deren Tochter T-Systems, die die Stadt mit neuen Innovationen, wie etwa "Smart Meter", also intelligenten Stromzählern, und Breitbandinternet ausstattet, um so die Anforderungen der Zukunft abzubilden.

Die Zukunft des öffentlichen Verkehrs: In Masdar City wird auf Personal Rapid Transit gesetzt - ohne Wartezeiten und ohne Lenker.
© © Institut für Auslandsbeziehungen

Doch zurück zu Chongqing, New Songdo City und Masdar City. Die Vorzeigeprojekte moderner Städteplanung zeigen die Zukunft des urbanen Bereichs. Chongqing ist auf dem besten Weg, zu einer der größten Städte der Welt zu werden. Gut zwei Flugstunden von Shanghai entfernt, hat die Stadt mittlerweile etwa zehn Millionen Einwohner, der Großraum gut 30 Millionen. Doch Chongqing wächst. Rasend schnell. Die Metropole gilt als Leuchtturm in Chinas "Go-West-Strategie", dem Bestreben, die starken Einkommensunterschiede zwischen den reichen Küstenregionen und den unterentwickelten Inlandprovinzen zu überwinden. Die Stadt erstreckt sich über eine Fläche von 82.403 Quadratkilometern und ist damit annähernd so groß wie Österreich. Hochhäuser, so weit das Auge reicht. Wo früher Bauern ihre Äcker bestellten, entstehen nun riesengroße Wolkenkratzer. Eine Smogglocke hängt über den Dächern der Stadt und die Luftqualität ist verbesserungswürdig.

Megametropolen

Doch diese riesigen Moloche des menschlichen Zusammenlebens werden in Zukunft nicht die Hauptstädte der Zivilisation sein. Die Mehrheit der Menschheit wird in Ballungsräumen mit bis zu fünf Millionen Einwohnern leben. Dennoch sind die Herausforderungen durchaus vergleichbar. Es ist zu erwarten, dass einzelne dieser Ballungsräume zu riesigen Megametropolen heranwachsen werden. Jeder einzelne Stadtteil muss dann in sich funktionieren, um zu einem gemeinsamen Großen zu werden.

Die Antithese zum chinesischen Moloch soll Masdar City, die Ökostadt in den Vereinigten Arabischen Emiraten, darstellen. Das als "CO2-neutrale Wissenschaftsstadt" angekündigte Bauvorhaben soll vollständig durch erneuerbare Energien versorgt werden. So ist unter anderem die Wasserversorgung mit solarbetriebenen Entsalzungsanlagen geplant. Strenge Nachhaltigkeitsrichtlinien sollen sicherstellen, dass Masdar nicht nur CO2-emissionslos, sondern durch konsequentes Recycling nahezu abfallfrei sein wird. Frischluftkorridore, Parkanlagen, teilweise unterirdische Gänge und Gewölbe sowie eine Bauweise, die alten arabischen Städten nachempfunden ist und bei der sich Gebäude gegenseitig beschatten, sollen die Bauflächen durchziehen und die Temperatur im Vergleich zur 30 Kilometer entfernten Hauptstadt Abu Dhabi drastisch senken. Das ehrgeizige Projekt wird auf einer Fläche von sechs Quadratkilometern umgesetzt und soll bei der Fertigstellung im Jahr 2025 47.500 Einwohnern und rund 1500 Firmen und Instituten Platz bieten. Kein Punkt im Stadtgebiet wird mehr als 200 Meter von einer Haltestelle der öffentlichen Verkehrsmittel entfernt sein, so die Planer. Zudem werden sogenannte "Personal Rapid Transit"-Systeme (PRT) eingesetzt werden. Dabei handelt es sich um führerlose, spurgeführte Kabinenbahnen, die ohne Fahrplan Fahrgäste individuell auf Bestellung ohne Zwischenhalt vollautomatisch an ihre Ziele bringen.

New Songdo City, eine seit 2003 entstehende Planstadt als Teil der Millionenstadt Incheon in Südkorea, liegt etwa 40 Kilometer südwestlich vom Zentrum der Hauptstadt Seoul und gilt als Prototyp der modernen Stadt: Die Einwohner sollen Wohnen, Arbeit und Freizeit in einer nachhaltig ausgerichteten Kommune, die eine Konzentration von Finanzplatz, Wirtschaftsplatz und Technologiezentrum werden soll, vereinen. Der Fokus liegt nicht nur auf umweltschonendem Individual- und öffentlichen Verkehr, sondern wird auf über 40 Prozent der Stadtfläche Parks, Grün- und Erholungsgebiete aufweisen.

Aus ökologischer Sicht ist die Planung eines zentralen pneumatischen Abfallentsorgungsnetzes bemerkenswert und wohl weltweit einzigartig. Bei diesem System werden Abfälle - ähnlich eines Rohrpostsystems - von jedem Einwurfspunkt aus in Spezialbehältern mit Druckluft in das Entsorgungszentrum befördert. Dies macht die unhygienische Zwischenlagerung und störende Abfallabholung durch Fahrzeuge obsolet.

Internet der Dinge

Doch nicht nur neue Mobilitäts- und Energiekonzepte sind gefragt, das Um und Auf wird das Thema Vernetzung darstellen. In den kommenden Jahren werden intelligente Endgeräte über das Internetprotokoll miteinander kommunizieren. Dieses "Internet der Dinge" wird auch in der Stadt der Zukunft deutliche Spuren hinterlassen. Keine Reklamewand, kein Gebäude, keine Kamera oder sonstiges elektronisches Gerät, das nicht in einem riesigen Netz der Kommunikation und Information verbunden sein wird. In Zukunft könnte die Kleidung der Menschen den Gesundheitszustand an Notärzte mitteilen, ihr Schuh mit der Bus-haltestelle kommunizieren und über das erwartete Eintreffen der Schwebebahn informieren.

Adam Greenfield, bekannter Autor, Berater und IT-Zukunftsforscher, sieht eine Zukunft voller Kameras: "Die Stadt der Zukunft beobachtet mich mit Tausenden Augen. Sie ist voller intelligenter Geräte, die wissen, was ich will und wohin ich meine Schritte als nächstes lenke. Auch ich werde viel mehr über meine Umgebung wissen." Es wird also darauf ankommen, welche gesellschaftlichen Regeln sich für das Internet der Dinge entwickeln. Die Technik lässt sich nicht mehr aufhalten, meint Greenfield. "Nach und nach wird jedes Kleidungsstück, jeder Laternenpfahl und jede Hausfassade ans Internet angeschlossen sein. Wesentlich ist aber, dass der Datenstrom, den diese Systeme erzeugen, offen und für jedermann zugänglich ist. Nur so kann der Wert, der in diesen Daten enthalten ist, nicht verschlossen bleiben und in das Eigentum von irgendjemand übergehen. Egal, ob es sich dabei um Behörden oder um Unternehmen handelt."

Wie nahe entsprechende Zukunftsvisionen der Realität schon gekommen sind, zeigt sich am Shinagawa-Bahnhof in Tokio. Dort steht ein biometrischer Getränkeautomat mit Touchscreen und Digitalkamera. Das riesige Display passt sein Angebot der Tages- und Jahreszeit, ja sogar der aktuellen Temperatur an. An einem kalten Morgen präsentiert der Bildschirm heißen Kaffee, an einem heißen Sommertag eisgekühlte Tees. Eine Gesichtserkennungs- und Bildanalyse-Software kann das Alter und Geschlecht der Kunden erkennen und so spezielle Angebote anbieten. Unter anderem sollen Zigarettenautomaten mittels dieser Technologie auch keine Rauchwaren an Kinder verkaufen. Sherry Turkle, US-amerikanische Soziologin und Professorin für Science, Technology and Society am renommierten MIT meint zu dieser Entwicklung: "Das Gefühl, dass mir niemand zuhört, veranlasst uns, dass wir unsere Zeit mit Maschinen verbringen, die sich für uns und unsere Gefühle oder Bedürfnisse zu interessieren scheinen.

Die riesigen Megacities der Zukunft sind aber bei Weitem noch nicht das Ende der gedanklichen Fahnenstange. Das Konzept des "Ultima Tower" in San Francisco, erdacht von Eugene Tsui, sieht die Menschen in Zukunft in Termitenbau-ähnlichen Hochhäusern wohnen. Auf etwas mehr als 1,5 Quadratkilometern könnten so mehr als eine Million Menschen leben, so die Planer. Schwimmende Inseln, die sich selbst versorgen und hunderttausenden Bewohnern Lebensraum böten, sind ebenso ein steter Quell der städteplanerischen Überlegungen. Weltweite Bekanntheit erlangte auch das "Venus Project" in Florida. Hierbei wird eine Zukunftsstadt geplant, bei der Nachhaltigkeit und Energieeffizienz im Mittelpunkt stehen. Die Philosophie dahinter klingt ebenso simpel wie realitätsfern: Technologie wird umso besser, je weniger die Profitgier im Mittelpunkt der Überlegungen steht. Die Zukunftsmetropolen würden nicht nur an Land und auf dem Wasser, sondern auch unter der Erde und unter Wasser erbaut werden. Und wem diese Visionen noch nicht reichen, dem sei der Plan des "Weltall-Lifts" ans Herz gelegt: Menschen könnten in den nächsten 50 Jahren mit einem "Lift" in luftige Höhen getragen werden, um dann vom Himmelszelt aus auf den Rest der Menschheit zu schauen.

Ein wesentlicher Gedanke wird allerdings bei den meisten neuen Stadt-entwicklungen außer Acht gelassen - und diesen formulierte die bereits verstorbene kanadische Sachbuchautorin, Stadt- und Architekturkritikerin Jane Jacobsen wie folgt: "Das Herz der Stadt sind die alten, gewachsenen Viertel mit ihrer Geschichte." Und das kann man nur sehr schwer nachbauen.

Artikel erschienen am 14. September 2012 in: "Wiener Zeitung", Beilage "Wiener Journal", S. 4-9