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Das Jobmigranten-Karussell

Von Jan Michael Marchart

Politik

Die Ansätze, den Fachkräftemangel in den Griff zu bekommen, sind genauso vielschichtig wie seine Ursachen. Vor allem ÖVP und SPÖ haben mit diesem Thema Probleme - weil sie ihre Migrationslinie durchkreuzen müssen.


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Wer es bis dahin nicht für möglich gehalten hat, dass eine Sozialdemokratin von einem ihrer Genossen verlangt, seinen "Haider-Sager zu revidieren", wurde Anfang des Vorjahres eines Besseren belehrt. Der damalige SPÖ-Bundesgeschäftsführer und jetzige steirische Nationalratskandidat, Max Lercher, verstörte damals seine Partei mit einer Aussendung. Unter dem Titel "Die FPÖ holt 150.000 Zuwanderer ins Land" warf er der damaligen Regierungspartei "Lohn- und Sozialdumping durch Massenzuwanderung" und "Arbeiterverrat" vor. Diese Diktion hätte die FPÖ kaum besser hinbekommen.

Lercher monierte, dass die FPÖ, die ansonsten "Unser Geld für unsre Leut’" proklamiert, eine Ausweitung der Mangelberufsliste in einer Koalition mit der ÖVP einfach so schlucke. Das war ein Wunsch der Wirtschaftskammer, die damit Jobmigranten aus Drittstaaten anlocken möchte, um den Fachkräftemangel einzudämmen. Das sei an "Chuzpe kaum mehr zu überbieten", polterte Lercher. Wenn es darum geht, mit Fachkräften aus Drittstaaten Joblücken zu füllen, durchkreuzt die SPÖ ihren gewohnten Migrationskurs. Aber auch die ÖVP.

Doch: Gibt es einen solchen Fachkräftemangel in Österreich überhaupt? Die Wirtschaft klagt, dass 162.000 qualifizierte Fachkräfte fehlen, bezieht sich dabei aber nur auf eine Umfrage, an der rund 4500 Firmen teilnahmen. Im September waren dagegen 330.691 Menschen ohne Job. Gleichzeitig jubiliert die Politik über neue Beschäftigungsrekorde. Wie passt das zusammen?

"Dass es einen Fachkräftemangel gibt, ist zweifellos", sagt der Chef des Arbeitsmarktservice (AMS), Johannes Kopf. Im August standen 300 Dreher 650 offenen Stellen gegenüber oder 1400 Elektroinstallateure 2700 Jobs. "Man darf sich aber nicht vorstellen, dass sich diese Zahlen auf null stellen lassen", sagt Kopf. Das hat viele Gründe. Das sei ein regionales Problem. Im Westen Österreichs würden Betriebe händeringend nach Köchen suchen, während manche in Wien erwerbslos seien. In der Hauptstadt gab es Ende August sechsmal so viele Lehrstellensuchende als Lehrstellen. Im Westen sei es umgekehrt: Da waren es zweimal mehr Lehrstellen als Lehrstellensuchende. Die Übersiedelung von Ost nach West sei aus familiären Gründen oder wegen Aufsichtspflichten bei minderjährigen Lehrlingen schwierig, so Kopf.

Rot und Türkis durchkreuzen ihren Migrationskurs

Oft passt laut dem AMS-Chef auch schlicht die Qualifikation nicht. Etwa wenn ein Diplomingenieur gesucht wird und ein Bewerber zwar technische Fähigkeiten mitbringt, aber kein Diplom. Auch die Entlohnung ist relevant. In Tirol leben laut Kopf weit mehr Köche, als in der Küche arbeiten. Viele davon seien wegen besserer Gagen und Arbeitszeiten in der Industrie. "Da muss ich nicht immer am Abend, am Wochenende oder in den Ferien arbeiten."

Einen Fachkräftemangel gibt es also. Die spitzen Töne der SPÖ in dieser Debatte kommen nicht von ungefähr. Die Partei, heute proeuropäisch und gegen die Abschiebung von Asylwerbern in Lehre, befindet sich in einem Dilemma. Einst war die selbst ernannte Vertreterin der heimischen Arbeiterschaft skeptisch, was den globalisierten Arbeitsmarkt, also den Beitritt zur EU betrifft. Die Gewerkschaft warnte auch aus Angst vor Lohndumping gegen die Ost-Öffnung 2011. Die SPÖ setzt sich für eine EU-Endsenderichtlinie ein, wonach Firmen Arbeitnehmer für maximal ein Jahr in ein anderes EU-Land schicken können. Die slowakische Putzkraft soll auf Zeit so viel wie eine österreichische verdienen. In Sachen Fachkräftemangel plädieren die Roten aber vor allem dafür, den heimischen Arbeitskräften schlicht mehr zu zahlen, um sie in die Branchen zu locken. Laut Kopf sei das zu einfach. Der Tourismus etwa könne "nicht beliebig Löhne erhöhen, weil auch der internationale Gast Preise vergleicht und dann im Winter nicht mehr nach Tirol Skifahren, sondern irgendwo schwimmen geht".

Unter Sebastian Kurz fährt die ÖVP eine hart migrationskritische Linie, sie hätte aber nichts dagegen, wenn der Koch aus Bosnien im Zillertal am Herd steht. Zuletzt hat Kurz auch seine Meinung korrigiert, wonach Asylweber in Lehre mit negativem Bescheid sofort abgeschoben werden sollen. So können die etwa 3000 Asylwerber die Ausbildung beenden - abgeschoben werden soll die Fachkraft danach trotzdem, was die Wirtschaft kritisch sieht. Künftig will Kurz, dass nur anerkannte Flüchtlinge einen Lehrplatz bekommen.

Andere Parteien sind in dieser Frage konsequenter. Die Freiheitlichen lehnen, außer wie zuletzt in der Koalition mit der ÖVP, ausländische Arbeitskräfte ab. Neos und Grüne stehen Jobmigranten aus Drittstaaten positiv gegenüber. Letztere wollen so den stark unterbesetzten Pflegebereich stützen. Aus Sicht der Neos soll die Arbeitsvermittlung über eine Online-Plattform organisiert werden.

Rot-Weiß-Rot-Karte als Tropfen auf dem heißen Stein

Aber wie kann es überhaupt sein, dass Österreich in einem gemeinsamen europäischen Arbeitsmarkt seinen Fachkräftemangel mit Jobmigranten aus Drittstaaten ausgleichen muss? "Ein entscheidender Unterschied der Europäischen Union zur USA ist, dass wir keine gemeinsame Sprache haben", sagt Kopf. "In Polen mag es zwar interessante Dachdecker geben, aber die können kein Deutsch." Weiters seien die Ausbildungen innerhalb Europas nicht vergleichbar. "So toll unser Lehrlings- und Berufsausbildungssystem ist, das schafft Hürden für alle, die da nicht drinnen sind", sagt Kopf. Wie in Österreich sei die Jobmigration aber auch in der EU eine Frage der Mobilität und dass "die Berufe vor allem im technischen Bereich, die bei uns fehlen, auch in anderen Ländern abgehen".

Die Arbeitsmigration nach Österreich erfolgt vor allem aus den EU-Ländern. Die Rot-Weiß-Rot-Karte, der heimische Arbeitsausweis für Jobmigranten aus Drittstaaten, werde laut Kopf in starken Jahren höchstens 3000 Mal ausgestellt. Darunter seien aber hunderte Sportler und weniger der IT-Techniker aus Indien.

Lehrlinge heute "schwächer" als früher

Als Mittel gegen den Fachkräftemangel ist die Rot-Weiß-Rot-Karte allein wenig tauglich. Zwischen 2010 und 2018 seien laut Kopf dagegen mehr als 250.000 Arbeitskräfte aus der EU nach Österreich gekommen - am meisten aus Deutschland, Ungarn und Rumänien. "Deutsche oder etwa Ungarn haben eine niedrigere Arbeitslosigkeit als die Österreicher, weil sie herkommen, wenn die Arbeit finden", sagt Kopf. Insgesamt habe sich die heimische Situation der Demografie und des Fachkräftemangels durch die EU-Zuwanderung "entschärft", wenn auch Österreich dadurch innerhalb der EU nicht mehr die niedrigste Arbeitslosigkeit habe und auf Platz neun abgerutscht sei. Vor allem seien die vielfach schlechter qualifizierten Arbeitskräfte aus Ex-Jugoslawien und der Türkei dadurch verdrängt worden. Dass Fachkräfte fehlen, habe laut Kopf vielfach nicht damit zu tun, dass viele Betriebe keine Lehrlinge mehr ausbilden wollen. Sondern viele, die es wollen, finden oft keine Jugendlichen dafür. Heute lässt sich etwa kaum jemand für eine Fleischerlehre finden. Aufgrund der Demografie gebe es außerdem viel weniger 15-Jährige als früher und die besseren ziehe es in höhere Schulen. Die Schwächeren, "die früher Hilfskräfte geworden wären", würden versuchen, etwa mit AMS-Förderung irgendwie eine Lehre zu ergattern. "Der durchschnittliche Lehrling ist somit heute schwächer geworden", sagt Kopf. "Deshalb auch die gängige Klage: Zeigt mir einen, der lesen, schreiben, rechnen und auch noch grüßen kann, dann nehme ich ihn."

Spätere Pension und ganztätige Kinderbetreuung

So vielschichtig wie die Symptome für den Fachkräftemangel sind auch die Lösungswege. Laut Kopf sind die Stärkung der betrieblichen Ausbildung oder Rot-Weiß-Karte nur zwei Bausteine.

Ein weiterer Ansatz sei, dass Österreicher später in Pension gehen müssen, sagt Kopf. "Es gibt viele Leute, die noch können und die man mit Anreizen motivieren könnte." Wesentlich seien auch flächendeckend ganztätige Kindergartenangebote, um verstärkt Frauen im Job zu halten. Darüber hinaus "haben wir noch zu viele Unqualifizierte, die aus der Schule kommen und nicht gebraucht werden", sagt Kopf. Durch mehr Frühförderung im Kindergarten und in Volksschulen könnten mehr Kinder höhere Ausbildungen erreichen, glaubt Kopf. Aber auch das AMS sieht er in der Pflicht: Durch eine überregionale Vermittlung soll das Ost-West-Gefälle austariert werden.