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Das Juncker-Dilemma

Von Christian Ortner

Gastkommentare
Christian Ortner.

Die politischen Eliten der EU stecken in der Zwickmühle: Wollen sie den Euro endgültig retten, droht ihnen die Rache des Wählers.


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Es ist eine Formulierung von historischer Wucht, auf die sich die Gründerväter der heutigen EU im Jahr 1957 in den Römischen Verträgen verständigten: Nicht weniger als "eine immer engere Union" sollte in Europa entstehen. Doch nachdem sich nun der durch die jüngsten EU-Wahlen aufgewirbelte Staub legt, stellt sich bei nüchterner Beobachtung eine einfache Frage: Will die große Mehrheit der EU-Bürger eigentlich noch eine "immer engere Union"? Wenn in Frankreich, einem der Signatarstaaten der Römischen Verträge, die Mehrheit eine Partei wählt, die "die EU zerstören will", wenn in Großbritannien ganz Ähnliches geschieht, wenn selbst im bisher extrem proeuropäischen Deutschland eine stark EU-kritische neue Partei aus dem Stand 7 Prozent erreicht (Tendenz steigend) und wenn in Österreich die FPÖ 20 Prozent erringt, dann deutet das in Summe nicht wirklich auf eine allgemeine Akzeptanz der "immer engeren Union" hin.

Gemessen daran, dass diese Entwicklung die EU in ihrer Existenz gefährden könnte, reagieren deren wichtigste Institutionen erstaunlich nonchalant - was das Problem freilich nicht lösen wird. Dieses dürfte in naher Zukunft höchst unangenehm eskalieren. Ziemlich klar ist mittlerweile, dass die langsam abklingende Euro-Krise langfristig nur dadurch saniert werden kann, die "immer engere Union" in wirtschaftspolitischer Hinsicht eher forciert voranzutreiben. Alle anderen Optionen erscheinen derzeit politisch völlig unrealistisch.

Das heißt aber in der Praxis: eine weitere Entmachtung der nationalen Parlamente in den zentralen Fragen der Budgeterstellung, eine weitere Vergemeinschaftung der Staatsschulden und anhaltende Vermögenstransfers von den wohlhabenderen zu den schwächeren EU-Staaten. Man mag das für wünschenswert oder eine Fehlentwicklung halten - alle anderen denkmöglichen Varianten sind entweder illusorisch oder bergen ebenfalls erhebliche ökonomische Risiken. Aus dem Omelett, das die Euro-Retter seit 2008 angerichtet haben, kann man heute unter realistischen Küchenbedingungen keine Eier mehr machen.

Das Problem ist nur: Die womöglich heute wirklich alternativenlose Politik der "immer engeren Union" betrachten immer mehr Wähler als durchaus nicht alternativenlos. Damit kommt natürlich die politische Klasse in der ganzen EU enorm unter Druck: Treibt sie die "immer engere Union" um jeden Preis entschlossen voran, droht ihr der politische Exitus. Was letztlich die ganze EU zerstören könnte: Denn was wird aus ihr, wenn die Franzosen tatsächlich Marine Le Pen, die aus der Union austreten will, an die Spitze des Staates wählen?

Doch unter dem Druck der politischen Verhältnisse nun ein Wendemanöver einzuleiten und die "immer losere Union" anzudenken, würde wohl den Euro neuerlich in seiner Existenz bedrohen, wäre also auch keine wirklich attraktive Option.

Sollten Europas politische Eliten einen Plan haben, wie sie dieses Dilemma auflösen wollen, verbergen sie den hervorragend.

Der Vielleicht-EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker sagte einmal: "Wir Politiker wissen meist, was zu tun ist. Wir wissen nur nicht, wie man danach wiedergewählt wird." Die nähere Zukunft der EU wird belegen, wie recht er damit hat.