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Das juristische Ende des Krieges

Von Gerhard Strejcek

Wissen
Die Angeklagten in Nürnberg. Zu sehen sind u.a. Hermann Göring, Rudolf Heß, Joachim von Ribbentrop und der uniformierte General Wilhelm Keitel (erste Reihe v.l.n.r.). General Alfred Jodl (ebenfalls uniformiert) sitzt in der Mitte der zweiten Reihe.
© anonym/ Corbis

Im November 1945 begann der "Nürnberger Prozess" gegen wichtige nationalsozialistische Funktionäre. Das Verfahren beruhte auf einem völkerrechtlichen Vertrag, war aber juristisch umstritten.


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Am 16. November 1945 begann vor dem Internationalen Militär-Tribunal in Nürnberg der Prozess gegen die sogenannten Hauptkriegsverbrecher, der bis Anfang Oktober 1946, also fast ein Jahr lang, dauerte. Insgesamt wurden zwölf Todesurteile verkündet, die Vollstreckung am eigens dafür errichteten Galgen erfolgte am 15. Oktober 1946. Die Kremierung der Hingerichteten fand unter fremder Identität in München statt, wo nichtsahnende US-Soldaten die Asche der einst Mächtigen in den Isar-Kanal streuten. Neben ehemaligen Gauleitern und Ministern wurden die Generalstabsoffiziere Jodl und Keitel, der ehemalige Außenminister Ribbentrop (Architekt des Hitler-Stalin-Paktes 1939), der SS-Führer und Gestapo-Chef Kaltenbrunner sowie der Wiener Anwalt Arthur Seyß-Inquart hingerichtet.

Das Verfahren beruhte auf einem völkerrechtlichen Vertrag, den die Alliierten am 8. August 1945 in London miteinander abgeschlossen hatten. Dem IMT-Statut (= International Military Tribunal), dem sich noch zwanzig weitere Staaten angeschlossen hatten, waren kontroverse Vorberatungen vorangegangen, deren Dokumentation im US-State-Department und in britischen Archiven in den 1950er Jahren wissenschaftlichen Forschungen zugänglich gemacht wurde. In vielerlei Hinsicht betraten die Siegermächte des Zweiten Weltkrieges mit dem Nürnberger Strafgericht Neuland. Wie der Name sagt, sollte laut Statut eigentlich ein Militärgerichtshof (Military Tribunal) mit internationaler Ausrichtung tätig werden.

Kriegsverbrecher

Doch der Begriff scheint irreführend: Weder waren die Richter (mit Ausnahme der Sowjets) ausschließlich Militärangehörige, noch standen ausschließlich deutsche Offiziere vor den Richtern. Im Gegenteil, selbst unter Einbeziehung des ehemaligen Luftwaffen-Chefs Göring waren nur fünf prominente NS-Offiziere aus dem Oberkommando der Wehrmacht und der Marine angeklagt (Keitel, Jodl, Dönitz, Raeder).

Im Vorfeld des Nürnberger Prozesses hatten der Brite Sir David Maxwell-Fyfe und der französische Professor Gros die Frage der Bestrafung des deutschen Angriffskrieges erörtert. Nacheinander hatte Hitler die Tschechoslowakei, Polen, Belgien, die Niederlande, Luxemburg, Frankreich, Norwegen, Dänemark, Jugoslawien, Griechenland und die UdSSR angegriffen. Aus britischer Sicht war bereits die Planung und mehr noch die Durchführung dieser Aggressionspläne ein Verbrechen, während die Franzosen darin eher eine ethisch-politische Frage sahen.

Schlussendlich konnten Divergenzen ausgeräumt werden und die großen Vier entsandten ihre juristische Elite nach Nürnberg. Der britische "Lord Justice", Geoffrey Lawrence, führte den Vorsitz in souveräner Weise, neben ihm amtierte der Strafrechts-experte Birkett als Richter. Frankreich war im Gericht durch die Professoren Falco und Donnedieu de Vabres, anerkannte Rechtswissenschafter, vertreten. Letzterer äußerte sich später kritisch über die Verurteilung der Generäle Jodl und Keitel. Die USA entsandten mit Chief Justice Robert Jackson den ranghöchsten Richter der USA als Chefankläger, sowie die Richter Biddle und Parker.

Der zweite Ankläger Telford Taylor, ein US-General, sollte später für den Korea- und Vietnamkrieg eine ähnliche Aburteilung der Verbrechen fordern, was aber versandete. Aus der UdSSR ergänzten die Generäle Woltschkow und Nikischenko die Richterbank, wortgewaltig amtierte der russische Ankläger Generalleutnant Rudenko. Seine Reden vor dem IMT wurden umgehend in der russischen Zone unter dem Titel "Die Gerechtigkeit nehme ihren Lauf!" publiziert.

Auch aus anderen Darstellungen geht hervor, dass der Prozess eine erzieherische Wirkung entfalten sollte. In der Westzone veröffentlichte Alfred Döblin, der berühmte Autor des Romans "Berlin Alexanderplatz", unter dem Pseudonym Hans Fiedeler ein Buch über den "Nürnberger Lehrprozess". Sachliche Dokumentationen kamen erst später, etwa jene des Journalisten Joe Heydecker (gemeinsam mit Johannes Leeb), die ab 1958 bis 2003 oftmals neu aufgelegt wurde. Die Protokolle des ersten Prozesses erschienen 1957 auf Deutsch in einer zweibändigen Ausgabe, 1984 dann als zwölfbändiger Nachdruck sämtlicher 23 Protokollbände im Delphin-Verlag.

Für die Wissenschaft ist diese Dokumentation wichtig, denn nicht nur in revisionistischen Kreisen hielt sich hartnäckig die Einstufung des Prozesses als "Rache-" oder "Siegerjustiz", die einer Nachprüfung nicht standhält. Sachliche Kritik ist aber zulässig und betrifft etwa die technisch misslungene Hinrichtung der zum Tod Verurteilten am 15. Oktober 1946, die den Revisionisten Auftrieb gab.

Die späteren Prozesse sind weniger akribisch dokumentiert worden, wenngleich sie große historische Bedeutung hatten, ging es doch um die NS-Ärzte, Juristen, die Rolle der Industrie (IG-Farben, BUNA, Krupp usw). Die Nürnberger Prozesse betrafen nicht nur Personen, sondern auch Organisationen, sodass die Bezeichnung der SS als verbrecherische Organisation auf einem Gerichtsurteil fußt (wogegen die SA freigesprochen wurde). Im "Wilhelmstraßen-Prozess" standen Diplomaten, darunter der Vater des späteren deutschen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker, im Visier der Alliierten.

Kriegsgefangene

Politisch erscheint es von Interesse, dass die Alliierten zunächst mit der Regierung Dönitz (Hitlers Nachfolger als Reichspräsident) zwecks Demobilisierung der deutschen Armee kooperierten. Nach Verabschiedung des IMT-Statuts, das drei Wochen nach der Potsdamer Konferenz beschlussreif war, wurde aber klar, dass die militärische, aber auch die zivile Führungsspitze des zerschlagenen NS-Staates strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden würde. Im Auftrag des Oberkommandierenden Generals der Alliierten Streitkräfte in Europa, Dwight D. Eisenhower, und des sowjetischen Oberkommandos überbrachte der amerikanische Generalmajor Lovell Rooks am 23. Mai 1945 der deutschen Regierung und dem ehemaligen Oberkommando der Wehrmacht (OKW) in Flensburg die Nachricht, dass die noch in Freiheit befindlichen Politiker und Offiziere fortan als Kriegsgefangene betrachtet und interniert werden würden.

Die darauf folgende Verhaftung kam überraschend und hatte einen dramatischen wie auch demütigenden Verlauf. Der Stabschef Generaloberst Alfred Jodl, der noch am 7. Mai mit militärischem Gruß in Reims die Gesamtkapitulation unterschrieben hatte, übergab den britischen MPs seine Tagebücher, die dann als Belastungsmaterial im Prozess fungierten. Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel war bereits am 13. 5. verhaftet worden, Jodl und die anderen folgten zehn Tage später. Die Presse sah die beiden bereits vor dem Prozess am Galgen baumeln. Damit torpedierten einige Journalisten die Intention der Alliierten, einen fairen und rechtsstaatlich orientierten Strafprozess in Nürnberg zu etablieren, was dank der ausgewogenen Prozessführung des Vorsitzenden Richters Lawrence dennoch gelang.

Vor dem Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher wurden einige von den Angeklagten in alliierten Internierungslagern (wie z.B. in Mondorf, Luxemburg) angehalten, die intern als "dustbin" oder "ashtray" bezeichnet wurden. Ab August trafen die Angeklagten im Nürnberger Gefängnis ein, wo sie bis zum Prozessbeginn inhaftiert blieben.

Um die beträchtliche Zahl an Kriegsverbrechern abzuurteilen, kam es in den Folgemonaten und -jahren zu weiteren Prozessen nach den Nürnberger IMT-Verfahren. In Polen wurde etwa Rudolf Höß, der Auschwitz-Kommandant, 1946 vor Gericht gestellt und im April 1947 hingerichtet. In der ČSSR wurde u.a. der slowakische Vertreter Hitlers, der SA-Mann Ludin, abgeurteilt, und auch in Österreich und Italien fanden Prozesse statt. In Israel wurde dem SS-Führer und Auschwitz-Logistiker Adolf Eichmann der Prozess gemacht.

Die Reichsbahn, deren Infrastruktur die Deportation von Millionen unschuldigen Opfern ermöglicht hatte, wurde als Organisation jedoch freigesprochen - wieder einer der zweifelhaften Persilscheine, die neben den drakonischen Strafurteilen in Nürnberg ausgestellt wurden. Hitlers Architekt Albert Speer konnte nach Verbüßung seiner Haft zum Medienstar und gefeierten Autor ("Spandauer Tagebücher") aufsteigen; nur Rudolf Heß, der 1941 nach Schottland geflogen und von Hitler für "geisteskrank" erklärt worden war, saß als einziger Häftling bis zu seinem späten Selbstmord in Spandau.

Jodls Nachleben

Ähnlich auch das Verhältnis der Stabschefs im Oberkommando der Wehrmacht: Jodl wurde hingerichtet, sein Stellvertreter Warlimont kam mit einer kurzen Haftstrafe davon und schrieb die Erlebnisse auf, die er "im Hauptquartier des Führers" gehabt hatte. Es fällt auf, dass ab Mitte der 1960er Jahre eine Flut revisionistischer und zeitgeschichtlich problematischer Werke den Buchmarkt überschwemmte, welche das Abenteuerhafte und Elitäre des "Dritten Reichs" herausstrichen, statt die Verbrechen des Regimes anzuprangern. Allein über General Jodl erschienen drei höchst unterschiedliche Werke, wie schon die Titel indizieren: Zunächst trat seine Witwe Luise (geborene von Benda) auf den Plan und veröffentlichte das biografische Werk "Jenseits des Endes. Leben und Sterben des Generaloberst A. Jodl" (Molden). Dann trat Günther Just 1971 im National-Verlag mit der Studie "Alfred Jodl. Offizier ohne Furcht und Tadel" auf den Plan; die gängige, aber vergriffene Biografie stammt von Bodo Scheurig (Propyläen 1986).

Literatur:Joe J. Heydecker/Johannes Leeb: Der Nürnberger Prozess. Neue Dokumente, neue Beweise, neue Erkenntnisse. KiWi 2003.Hellmuth Butterweck: Der Nürnberger Prozess. Eine Entmystifizierung. Czernin 2005.Raul Hilberg: Die Vernichtung der europäischen Juden. Drei Bände, S. Fischer 2011.GerhardStrejcek, geboren 1963 in Wien, ist Außerordentlicher Universitätsprofessor am Institut für Staats- und Verwaltungsrecht der Universität Wien.