Islamisten verstehen den Islam als umfassende Lebensordnung. | Einige überwinden so ihre Identitätskonflikte. | Wien. Der Islam und seine Gesetze sind für sie mit dem Leben in Europa nicht vereinbar. Westliche Demokratie lehnen sie ab. Der einzige Weg, um ihren Glauben umfassend leben zu können,
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ist für Mitglieder der Partei Hizb-ut-Tahrir die Gründung eines streng islamischen Staates. In Deutschland und in arabischen Ländern ist die Organisation verboten, in Österreich ist sie zwar legal, wird jedoch vom Verfassungsschutz beobachtet.
"Der Vorteil des Islam ist, dass er eine Lebensordnung ist, die alle Bereiche des Menschen regelt, ob politische, wirtschaftliche oder soziale", verteidigt sich der 23-jährige Yasir Firat, Mitglied bei Hizb-ut-Tahrir. Wie viele seiner Gesinnungsgenossen ist er gut ausgebildet, arbeitet im Familienbetrieb, einer Bäckerei, und spricht fließend Deutsch. Seine Partei-Kollegen verfügen oft über einen Universitätsabschluss. Aber ihrer Partizipation im Staat setzen sie Grenzen: "Die Teilnahme an säkularen politischen Wahlen ist im Islam verboten", meint Firat. "Wir lehnen das Wählen dieser säkularen Parteien ab, weil sie dem Islam widersprechen."
Früher hatte der Sohn von Einwanderern aus der südöstlichen Türkei Identitätsprobleme: "In der Schule habe ich mir Gedanken gemacht, was ich bin. Türke, Kurde oder Österreicher?" Heute legt er auf etwas anderes wert: "Meine Heimat ist der Islam, ich betrachte mich als Teil der Ummah, der religiösen Gemeinschaft aller Muslime. Nachdem ich Hizb-ut-Tahrir kennengelernt habe, konnte ich den inneren Konflikt überwinden, weil mir bewusst wurde, dass die Ideologie des Menschen seine Identität ausmacht."
Firat betrachtet Österreich als seine Heimat, weil er hier aufgewachsen ist. So richtig zuhause ist er nicht: "Wir haben hier keine islamische Atmosphäre in Gesellschaft, Bildung oder Wirtschaft. Ich kann meinen Glauben nur ausleben, insofern es die Beziehung zu Gott betrifft." Er hofft auf ein
Kalifat, einen islamischen Staat, dessen Errichtung das Ziel von Hizb-ut-Tahrir ist. "Zurzeit gibt es einen solchen Staat nicht", erklärt Firat. Denn selbst in der islamischen Welt existieren aus seiner Sicht nur "Vasallen-Regime": "Wenn dort ein Kalifat gegründet wird, ziehe ich hin."
Keines von Firats neun Geschwistern ist bei Hizb-ut-Tahrir. Seine Eltern reagierten zunächst besorgt, als er sich mit 17 Jahren der Partei anschloss. Kennengelernt hatte er Hizb-ut-Tahrir über Lehrkreise von Shaker Assem, dem Sprecher der Partei. Assem, 1964 in Kairo geboren, meint, dass diese Partei "den Islam so präsentiert, wie er wirklich ist". In Ägypten hatte er "die bittere Armut der Bevölkerung und rohe Korruption des Staates erlebt" und nach einer Lösung gesucht. Die Antworten fand er "in den Ideen und Wundern des Korans".
Koran als einzige Lösung
Die heilige Schrift der Muslime ist für Assem die Wahrheit und von Gott offenbart: "Durch Hizb-ut-Tahrir habe ich gelernt, dass der Islam mehr ist als nur Beten, sondern auch Lösungen für alle wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Fragen anbietet." Das Kalifat kannte Assem aus dem Geschichtsunterricht. "Ich habe die von Hizb-ut-Tahrir angebotene Lösung mit meinen Kindheitserinnerungen verknüpft."
Die Wiederherstellung des Kalifats wird bei Hizb-ut-Tahrir zum Allheilmittel für die Misere in islamischen Ländern, aber auch zum Schutzwall gegen den Westen, erklärt der an der Universität Osnabrück lehrende Religionswissenschafter Rauf Ceylan. In Bezug auf den Karikaturenstreit verlautbarte Hizb-ut-Tahrir etwa: "Allein das Kalifat wird solche boshaften Zungen zum Schweigen bringen. Die ungläubigen Kolonialisten werden es schon aus Angst vor dem Kalifat nicht wagen, den Islam zu beleidigen."
Laut Assem arbeitet Hizb-ut-Tahrir gewaltfrei. Quintessenz sei die Auseinandersetzung "mit falschen und unislamischen Ideen, um sie argumentativ zu widerlegen und die Richtigkeit der islamischen Ideen zu beweisen. Das Unheil auf der Welt ist auf nichts anderes als auf die falschen Ideologien zurückzuführen". Als Hauptfeind gilt der politisch dominierende Kapitalismus: "Deswegen gibt es keinen anderen Lösungsweg als die Bekämpfung der kapitalistischen Ideologie und ihre vollständige Beseitigung", heißt es in einer politischen Schrift. "Dazu ist nur der Islam in der Lage." Auch gegen die USA wettern die Islamisten - wegen deren "Arroganz, Parteinahme für die Juden, den von ihnen betriebenen Kolonialismus und deren Unterjochung anderer."
"Aufgrund ihrer ausgeprägten antijüdischen und antizionistischen Grundhaltung gilt für die Hizb-ut-Tahrir auch der Einsatz von Gewalt als legitimes Mittel", begründet der deutsche Verfassungsschutz das Verbot. Wegen ihres "radikalen, islamistischen Freund-Feind-Schemas" ist die Partei auch dem österreichischen Verfassungsschutz nicht geheuer: "In diesem Kontext entsteht ein feindseliges Klima, das zu dschihadistischen Tendenzen führen kann". Der Religionswissenschafter Ceylan meint: "Dieses Freund-Feind-Schema wirkt auf viele entlastend, denn Feindbilder haben Sündenbockfunktion. Zugleich sollen sie den Gruppenzusammenhalt stärken."
Arabische Welt im Visier
Zeitweise treten Imame von Hizb-ut-Tahrir in den Moscheen auf. "In den Predigten wurde die arabische Welt attackiert", erinnert sich ein Besucher an Freitagsgebete im Afro-Asiatischen Institut. "Die Zuhörer waren primär Studenten von der arabischen Halbinsel. In unserer Heimat war so eine Polemik streng verboten."
"Wir streben hier keine Veränderung an. Aber dafür zu arbeiten, dass das Kalifat in einem islamischen Land gegründet wird, ist für uns genauso Pflicht wie das Gebet", verteidigt sich Assem gegen Gewaltvorwürfe. "Uns geht es in Österreich darum, dass die Muslime ihre islamische Identität bewahren, ein richtiges islamisches Bewusstsein entwickeln", betont auch Firat: "Wir wollen auch der österreichischen Bevölkerung ein richtiges Islamverständnis vermitteln und Vorurteile abbauen. Eine friedliche Koexistenz ist möglich, vor allem wenn man als Muslim in dem Bewusstsein lebt, dass man im Jenseits für das, was man tut, zur Verantwortung gezogen wird."