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Das Kongo-Tribunal

Von WZ-Korrespondentin Simone Schlindwein

Politik
Der maskierte Zeuge: Auch wenn sie nur in einem Theaterstück erfolgt, ist eine Aussage gegen die Obrigkeiten lebensgefährlich.
© Schlindwein

Ausgebeutet und ausgeblutet: Der Kongo versinkt seit Jahren in Gewalt. Regisseur Milo Rau ruft nun in der Provinzhauptstadt Bukavu ein Gericht ein. Dieses ist Fiktion, aber die verhandelten Fälle sind real.


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Bukavu. Erst fällt die Klappe für die Kameras, dann ermahnt eine Stimme aus den Lautsprechern zum Aufstehen: "Das Gericht tritt ein." Die knapp 400 Zuschauer im vollen Theatersaal erheben sich. Ein Richter und ein Staatsanwalt in schwarzen Roben betreten die Bühne. Die fünfköpfige Jury nimmt an einem Tisch Platz. Dann können sich auch Zuschauer wieder setzen. Ganz ungewollt werden sie damit zu aktiven Teilnehmern des Spektakels.

Das Stück, das sich der Schweizer Regisseur und Filmemacher Milo Rau da ausgedacht und kürzlich im Kongo zu Aufführung gebracht hat, klingt schier nach Größenwahn, das gibt es offen zu. "Wahrheit und Gerechtigkeit" steht auf einem Banner über dem Bühnenbild geschrieben. Zwei Schlagworte, die nicht weiter von jener Realität weg sein können, die außerhalb dieses Theatersaals herrscht. Denn jenseits der alten Mauern des Jesuiten-Colleges im Herzen von Ostkongos Provinzstadt Bukavu tobt seit 20 Jahren einer der blutigsten Konflikte der jüngeren Geschichte. Als "Welthauptstadt der Vergewaltigung" wird Bukavu oft in den Medien bezeichnet, denn dort steht das berühmte Panzi-Hospital, das sich auf die Behandlung von misshandelten Frauen spezialisiert hat. In keinem Land der Welt wird so systematisch sexuelle Gewalt angewendet wie im Kongo.

Solange Lwashiga, Chefin der lokalen Frauenorganisation Caucas, hat sich in einem bunten Kleid schick gemacht. Sie sitzt als eine der wenigen Frauen im Publikum. "Ich bin gespannt, was geschehen wird, denn es ist das erste Mal, dass wir einen Raum erhalten, vor der Welt zu sprechen", sagt sie. Dass Raus Theaterprojekt gar kein richtiges Verfahren ist, findet sie gar nicht so schlimm, im Gegenteil. Als Lehrerin für afrikanische Literatur weiß sie: "Unsere Kultur bedient sich ohnehin mehr der Fiktion und der Mythen als der Realität, ich glaube, wir Kongolesen können uns darauf gut einlassen."

Mehr als nur Theater

"Das Tribunal ist eröffnet", verkündet der oberste Richter und schlägt mit dem Hammer auf den Tisch. Regisseur Rau tritt ans Rednerpult: "Es ist ein fiktives, ein symbolisches Verfahren", erklärt er.

Doch so ganz stimmt das dann auch nicht. Die Fälle, die in den beiden Anhörungstagen auf dieser Bühne verhandelt werden, sind real. Ebenso die Opfer der Massaker und Vertreibungen sowie die Tatorte und Augenzeugen, die aussagen. In Ermangelung eines funktionierenden Justizsystems im Kongo ist Raus Kongo-Tribunal mehr als nur Theater: Zum ersten Mal in der Geschichte wird hier jetzt die Frage nach der Verantwortung für die Verbrechen gestellt. In der Anklageschrift steht die exzessive Gewalt in direkten Zusammenhang mit dem Rohstoffreichtum: "Wer profitiert - die internationalen Konzerne oder eine kleine kongolesische Elite, die sich bereichert?", fragt der Staatsanwalt bei Verlesung seiner Quasi-Anklageschrift. Der Kongolese Sylvestre Bisimwa ist als Anwalt einer Frauenrechtsorganisation 2013 vor das Militärgericht gezogen, um die Armeeführung der Vergewaltigung anzuklagen. Auch am Internationalen Strafgerichtshof hat er schon Kongos Frauen vertreten. In Raus Tribunal-Theater spielt er sozusagen sich selbst.

Politischer Sprengstoff

Diese Frage in den Raum zu stellen, ist im Kongo politischer Sprengstoff. Gerade jetzt, in den Zeiten des Vorwahlkampfes der Lokalwahlen, die noch in diesem Jahr stattfinden sollen. Nächstes Jahr stehen Präsidentschaftswahlen an. Der amtierende Staatschef Joseph Kabila darf nicht mehr antreten. Sollte er die Verfassung nicht ändern, gilt Oppositionsführer Vital Kamerhe von der Partei UNC (Nationale Kongolesische Union) als vielversprechendster Kandidat. Er stammt aus Ostkongos Provinz Süd-Kivu, hat in Bukavu seine treuesten Anhänger. Raus Tribunal wurde somit zu einer Bühne für Kamerhes Wahlkampf, ein riskantes Unterfangen.

Vermummt in einer braunen Ganzkörperschutzhülle wie ein Imker, tritt ein Mann in den Zeugenstand. Nach Aufforderung durch den Richter hebt er die rechte Hand: "Ich schwöre die Wahrheit zu sagen und nichts als die Wahrheit." Seine Stimme wird durch ein spezielles Mikrofon verstellt, klingt blechern durch die Lautsprecher.

Doch die Schutzmaßnahmen sind notwendig. Gegen die Obrigkeiten auszusagen, ist lebensgefährlich im Kongo. Er berichtet von einem Massaker in einem Flüchtlingslager unweit von Bukavu, bei dem vor einem Jahr 35 Menschen getötet wurden. Er legt der Jury Fotos der Leichen als Beweise vor. Bewaffnete Männer seien in das Lager eingedrungen. Der Zeuge hätte Kongos Armee und die UN-Blauhelme angerufen, die in der Nähe stationiert waren, berichtet er. Doch niemand schritt ein. "Hätten Soldaten und Blauhelme das Massaker verhindern können?", fragt Bisimwa den Zeugen. "Ja", sagt dieser. "Wer trägt also die Verantwortung?", fragt der Staatsanwalt nach. Die Antwort kommt ohne zu zögern: "Die Regierung."

Kamerhes Anhänger im Publikum klatschen. Die Regierungsvertreter, die aus der 2000 Kilometer entfernten Hauptstadt Kinshasa eingeflogen waren und die erste Reihe in Beschlag genommen haben, zucken zusammen. Einer mit einem Stöpsel im Ohr und einem Funkgerät am Gürtel greift direkt zum Telefon. Dass in Raus Kongo-Tribunal nicht in erster Linie die internationalen Minengesellschaften, sondern die Regierung auf der Anklagebank steht, war abzusehen. Die Stimmung im Saal ist zum Zerreißen gespannt. Die Regierungsvertreter tuscheln.

Autopsie eines Konflikts

Richter Jean-Louis Gilissen haut mit dem Hammer auf den Tisch. "Ruhe, ich habe dem Publikum keine Redeerlaubnis erteilt", sagt er wie ein Oberstudienrat. Der belgische Anwalt war schon am Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag und am Sondertribunal für den Genozid in Ruanda 1994 tätig. Dieselben Regeln wie vor den Weltgerichten wendet er jetzt auch auf der Bühne des Kongo-Tribunals an. Jeder erhält im Zeugenstand genau fünf Minuten Redezeit: die Bäuerin, die von einer Minenfirma von ihrem Acker vertrieben wurde, genauso wie der Provinzgouverneur, dem Gilissen mit eisernen Hammerschlägen den Mund verbieten muss. Zum ersten Mal sind in diesem fiktiven Gerichtssaal alle Menschen gleich.

Wie bei einer Autopsie werden in den Anhörungen zu den Verhältnissen in den Minengebieten die verschiedenen Ebenen der Konflikte auseinandergenommen. Der Ex-Kommandeur einer lokalen Miliz berichtet mit verstellter Stimme, wie sie ihre Erträge der Minengesellschaft MPC verkauften. Auch sein Gesicht steckt in einer Schutzmaske. Ein Schürfer erzählt, wie er und seine Kameraden sich gegen den industriellen Abbau durch globale Konzerne wehren wollten, weil sie fürchten, ihre Einkommen zu verlieren. Letztlich hatte er sich Chekas Miliz angeschlossen, um gegen die Minenfirma zu kämpfen: "Wir sind eine Selbstverteidigungsgruppe, um uns gegen den industriellen Abbau zu wehren", sagt er.

Konzerne sehen sich als Opfer

Eine runzlige Bäuerin in ausgelatschten Flip-Flops erzählt in stockenden Worten, wie sie von dem internationalen Konzern Banro von ihrem Maisacker vertrieben worden war. Staatsanwalt Bisimwa hält ihr Fotos vor: Darauf sind neue Häuser, eine Grundschule, Krankenhaus zu sehen. "Hat Banro diese Gebäude als Entschädigung errichtet?", fragt er die Bäuerin. Sie nickt und gibt zu, dass sie und ihre Kinder zwei Häuser, einen anderen Acker und eine Kuh von der Firma erhalten hatten. Doch dies sei nicht genug.

"Und was fehlt ihnen jetzt im Leben?", fragt das Jury-Mitglied Prince Kihangi, ein kongolesischer Menschenrechtsanwalt, der gegen internationale Firmen ins Feld zieht. "Wenn sie mir noch eine Kuh und noch ein Haus geben würden, wäre ich zufrieden", sagt die Bäuerin. Regisseur Rau nickt zufrieden: "Der Kapitalismus setzt sich bis in die untersten Ebenen fort", sagt er. Im Kongo-Tribunal wird die Komplexität der Konflikte auf einfache Weise greifbar.

Denn auch die internationalen Konzerne sehen sich im Kongo-Chaos als Opfer. Laut Verfassung gehören alle Rohstoffe im Boden dem Staat, auch die Mineralien unter dem Maisfeld der Bäuerin. Ein ehemaliger Firmen-Angestellter beschwert sich im Zeugenstand: Banro hätte legal eine Konzession erworben, zahle viel Steuern an den Staat, doch dieser würde keine Schulen oder Krankenhäuser bauen, gar nicht einmal eine Zufahrtsstraße zu den Minen. "Das ist doch die Pflicht des Staates gegenüber der Bevölkerung", sagt er. Von allen Seiten gerät die Regierung ins Kreuzfeuer.

Die Opposition jubelt

Die Oppositionsmitglieder im Publikum klatschen, bis der Richter sie ermahnt. In den Aussagen der Provinzregierung im Zeugenstand wird nämlich offensichtlich: Die Machthaber im Kongo sind sich uneinig. Der Innenminister von Süd-Kivu beschuldigt die Armee, die Bevölkerung zu malträtieren. Provinzgouverneur Marcellin Cishambo wirft seinen Vorgesetzten in der Hauptstadt vor, sich ein Minengesetz von Großkapitalisten in der westlichen Welt aufzwingen hat lassen. Als der Vertreter des Regierungssprechers dann eine Erklärung verliest, wird er vom Publikum ausgebuht. Spätestens jetzt hat die Opposition den Wahlkampf im Gerichtssaal gewonnen.

Vor dem Toren des Jesuiten-Colleges sammelt sich ein kleines Häuflein Demonstranten. Sie haben Plakate gemalt: "Sieben Millionen Tote sind genug!", steht darauf geschrieben. Dies Opferzahlen im Kongo sind reine Hochrechnungen, jedes Jahr steigen sie um eine Million. Protestführer Jean Kijana schreit in ein Megafon: "Wir verlangen einen realen Internationalen Gerichtshof für den Kongo!" Frauenrechtlerin Lwagisha steht neben ihm und nickt: "Ich hab’s ja gewusst, sobald das Tribunal vorbei ist, werden die Leute sagen: Ach schade, dass es nur Fiktion war!"