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Das Kreuz mit der Leistungsbilanz

Von Erich W. Streissler

Wirtschaft
Lettland hat nicht nur Sehenswürdigkeiten zu bieten, sondern auch ein Leistungsbilanzdefizit von 23 Prozent. Foto: bbx

Leistungsbilanzdefizite sind nicht immer gefährlich. | Begriffe der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung gehen auf Keynes zurück. | USA: Sind Bildungsausgaben Investitionen? | Wien. Ein Leistungsbilanzdefizit ist nichts anderes als der Überschuss der Importe über die Exporte eines Landes im laufenden Jahr. Mehr importieren als exportieren kann ein Land nur, wenn ihm Wirtschafter anderer Länder Geld leihen (sei es beabsichtigt oder unbeabsichtigt) und es so in die Lage versetzen, mehr zu importieren, als es exportiert.


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Als verbindliche Grundgleichung der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung (VGR) gilt, dass ein Leistungsbilanzdefizit notwendig gleich, das heißt: dasselbe ist wie ein Überschuss der gesamten Investitionen über die gesamten Ersparnisse dieses Landes - innerhalb ein und derselben Periode.

Rechtlich verbindlich ist diese Grundgleichung deswegen, weil sie auf allgemein gültigen Rechtsnormen der Vereinten Nationen beruht: Im Interesse der Vergleichbarkeit haben alle Länder ihre Volkswirtschaftsstatistiken in gleicher Weise zu berechnen! Im Detail gäbe es immer noch gewisse Möglichkeiten für leichte nationale Abweichungen in den Rechenstilen: Deswegen werden innerhalb EU-Europas die VGRen nochmals durch das gemeinsame statistische Amt Eurostat vereinheitlicht, ja überhaupt von diesem internationalen Rechenzentrum für alle EU-Länder einheitlich erstellt.

Importe und Exporte sind vergleichsweise wenig problematische Begriffe und damit ihre Differenz, das Leistungsbilanzdefizit, kaum ein möglicher Streitpunkt. Problematisch und diskutierbar ist nur die andere Seite der Gleichung, nämlich dass jedes Leistungsbilanzdefizit gleich dem Überschuss der volkswirtschaftlichen Ersparnisse über die Investitionen ist.

Die Ersparnisse sind heute definiert als nicht-konsumiertes Volkseinkommen, mit anderen Worten als der Überschuss des Volkseinkommens über den Konsum. Über die Zweckmäßigkeit der durch UNO-Norm festgelegten Begriffe Konsum, Sparen und Investitionen lässt sich also streiten, nicht anders als über alle verbindlichen Rechtsfestsetzungen. Doch ändert das nichts daran, dass die Differenz auch von neudefinierten Spar- und Investitionsgrößen noch immer das Leistungsbilanzdefizit, mit anderen Worten: die internationale Neuverschuldung eines Landes, ergibt. Und: eine Änderung der diesbezüglich geltenden Rechtslage ist nach über einem halben Jahrhundert Erziehung aller Ökonomen in diesen Begriffen kaum mehr denkbar.

Wie Keynes unsterblich geworden ist

Der Öffentlichkeit ist nur wenig bewusst, dass die dargelegte Begriffsfassung der VGR auf Keynes (1936) zurückgeht. Jede Behauptung, Keynes sei tot, zeugt daher nur von ökonomischer Unwissenheit. In den wirtschaftspolitischen Schlüssen ist viel von dem, was in Keynes hineingelesen wurde, sicherlich "tot"; sein Begriffssystem aber ist durch rechtliche UNO-Verfestigung so gut wie unsterblich geworden.

Nach dieser Klärung können wir an die Beantwortung zweier zentraler Fragen gehen, die sich immer wieder aufdrängen. Erstens: Eine Reihe osteuropäischer Reformstaaten - und erst recht nach der Überwindung ihres Wirtschaftsdebakels von 2000/2001 die Türkei - haben Leistungsbilanzdefizite, die zumindest in Prozent der nationalen Sozialprodukte sehr viel höher sind als die der USA. Ist das bei unseren engen Verwicklungen mit diesen Ländern nicht ein noch viel höheres Risiko? Zweitens: Ist die Unterscheidung zwischen Investition und Konsum eine heute und im spezifischen Fall USA noch brauchbare?

Die erste Frage ist leicht zu beantworten: Ein Leistungsbilanzdefizit, das ja gleich ist einem Überschuss der Investitionen über die Ersparnisse, kann auf zwei verschiedene Arten entstehen: erstens weil im internationalen Vergleich so viel investiert und zweitens weil, wieder im internationalen Vergleich, so wenig gespart wurde. Es ist geradezu typisch, dass Schwellenländer im beginnenden Aufholprozess zu den industriellen Führungsländern ein Leistungsbilanzdefizit aufweisen, weil sie in diesem Aufholprozess eine ungewöhnlich hohe Investitionsquote haben müssen; und zu diesen sich rasch entwickelnden Schwellenländern zählen nunmehr viele osteuropäische Reformstaaten und auch die Türkei. Schon das gegenüber dem damaligen wirtschaftlichen Führungsland, den Niederlanden, aufholende England des späten 17. Jahrhunderts hatte wahrscheinlich ein Leistungsbilanzdefizit; und ganz lehrbuchmäßig galt das von vielen wirtschaftlich aufstrebenden Ländern um 1900. Historisch einmalig ist aber, dass derzeit das pro Kopf reichste Land der Welt, die USA, sogar bei niedriger Investitionsquote ein großes Leistungsbilanzdefizit haben, weil der private Sektor in den USA nicht spart, ja entspart. Historisch einmalig ist die Auslandsfinanzierung von übermäßigem Staats- und Privatkonsum, und eben nicht von Investitionen, im (noch) reichsten Land der Welt.

Jede Investition, und insbesondere eine solche in die rasche Entwicklung eines fremden Landes, ist immer riskant. Investitionen in vermeintlich aufholende Schwellenländer sind oft danebengegangen, vor allem und wiederholt in Südamerika. Deswegen wird vernünftigerweise eine solche Auslandsfinanzierung von Investitionen nur dann durchgeführt, wenn sie eine dem Risiko gemäße hohe Verzinsung der Investitionsmittel verspricht. Ungewöhnlich und höchst riskant ist die Auslandsfinanzierung von (keine bleibenden Werte schaffendem) Konsum und das zu einem Zinssatz, der kaum über demjenigen vieler Geberländer liegt. Riskant also ist die Auslandsfinanzierung der USA. Wie "gut" letztlich die gegenwärtigen Investitionen des Restes der Welt in die USA sein werden, bleibt abzuwarten.

Eine Auslandsfinanzierung ist dann nicht sehr riskant, wenn sie im Volumen nicht zu groß ist. Zusammengenommen erreichen aber alle Wirtschaften der osteuropäischen Reformstaaten kaum ein Zehntel des Sozialprodukts der USA. Es kommt auf die Größenordnungen an! Zum Beispiel: Welche europäische Bank hat nicht da oder dort verlustreiche Investitionen im Ausland getätigt? Nur wenn man alles auf eine Karte setzt, kann ein ganzes Bankvermögen flöten (oder flöttln) gehen. Freilich, die Kredite des Restes der Welt in Höhe von mindestens einem Viertel des gewaltigen Sozialprodukts der USA erscheinen in ihrer Größenordnung im Vergleich mit den Österreich so sehr bewegenden Bawag-Fehlinvestitionen wie ein Elefant neben einer besonders kleinen Mücke.

Soll private Bildung als Konsum gelten?

Die zweite Frage lautet: Ist die Unterscheidung zwischen Investition und Konsum im Hinblick auf die USA noch eine brauchbare? Diese Frage wird unter Ökonomen seit Jahrzehnten diskutiert. Es wird zumal betont, in den USA würden besonders große private Mittel in die Bildung gesteckt, welche die VGR als Konsum verbucht, obwohl sie in Wahrheit Investitionen darstellten. Aber was würde das ändern? Das Wirtschaftswachstum der USA bliebe dasselbe und wäre nur mit höheren, das heißt: weniger effizienten, Investitionen erzeugt. Und die Differenz aus umgebuchten höheren Investitionen und den bei gleichem Volkseinkommen und niedrigerem Konsum höheren Ersparnissen, also das Leistungsbilanzdefizit, bliebe ebenfalls gleich. Und wie ist es, wenn die USA in Wahrheit Fehlinvestitionen tätigen? Dann wären eben letztlich sowohl die verwirklichten Investitionen wie die verwirklichten Ersparnisse niedriger, und die Differenz, das Leistungsbilanzdefizit, wäre wieder die gleiche.

Das Leistungsbilanzdefizit der USA, wie auch immer entstanden, ist also das entscheidende weltwirtschaftliche Problem. Problematisch nämlich ist es, dass viele ärmere Länder dem reichsten Land der Welt unaufhörlich leihen - und dann nicht sicher sein können, je etwas zurück zu erhalten, so dass gerade diese Leihe sich als die denkbar größte Fehlinvestition der heutigen Welt erweisen könnte. Aus Raimunds "Verschwender" offensichtlich nichts gelernt!