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Das Kreuz mit der Solidarität

Von Walter Hämmerle

Politik
Du sollst die Solidarität der anderen nicht ausnutzen: Für Mandl (r.) und Küberl ist das quasi das elfte Gebot christlicher Soziallehre. Foto: Andy Urban

Caritas-Präsident Franz Küberl und ÖAAB-Generalsekretär Lukas Mandl im Gespräch. | Warum der Staat ohne Solidarität nicht überleben kann. | "Wiener Zeitung": Vor genau 120 Jahren legte Papst Leo XIII. mit seiner Sozialenzyklika "Rerum Novarum" ("Geist der Neuerung") den Grundstein für die katholische Soziallehre und damit auch für die Christdemokratie. Diese war als Dritter Weg zwischen Sozialismus und Liberalismus konzipiert. Was ist davon heute noch übrig?


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Franz Küberl: Es gibt das Bonmot, wonach die katholische Soziallehre das bestgehütete Geheimnis der ist. Tatsache ist, dass es hier in den letzten zwanzig Jahren einen deutlichen Rückzug der Kirche gab. Johannes Paul II. hat 1991 mit "Centesimus Annus" die letzte große Sozialenzyklika herausgegeben, der letzte inhaltliche Impuls stammt aus 1981. In "Laborem Exercens" wurde der 700-jährige Streit in der Kirche entschieden, ob Kapital vor Arbeit oder umgekehrt rangiere. Johannes Paul II. hat klargemacht, dass Arbeit Vorrang hat. "Rerum Novarum" hat der Politik eine Menge Impulse gegeben - vom Verständnis eines gerechten Lohnes bis hin zu Fragen internationaler Zusammenarbeit -, das Verständnis eines eigenen Dritten Weges der Kirche hat sich jedoch als Irrweg herausgestellt.

Die ÖVP im Allgemeinen und der ÖAAB im Besonderen berufen sich auf die katholische Soziallehre, worin zeigt sich dies in der Praxis? Lukas Mandl: Im Gegensatz zu Küberl vertrete ich keine kirchliche Organisation, für mich sind die Sozialenzykliken deshalb vor allem Geschenke der Kirche an die Welt; was Politiker dann daraus machen, ist eine andere Frage. In Zeiten grassierender Politikfrustration gewinnt die Aufforderung, sich aus ethischem Antrieb heraus zu engagieren, neuen Stellenwert. Die Prinzipien der Soziallehre - Personalität, Subsidiarität, Solidarität und Gemeinwohl - bieten dafür eine mögliche Grundlage, weg vom Karrierismus hin zum Idealismus in der Politik zu gelangen. Das ist nicht zuletzt eine Konsequenz aus den jüngsten Ereignissen mit korrupten Politikern.

Die politische Gegenwart ist von der Dominanz des Staats geprägt: Egal, ob nun die Verpflichtung zu Solidarität und Gemeinwohl oder die Autonomie der Familie: Alles wird an den Staat und seine Institutionen delegiert. Die christliche Soziallehre hat offensichtlich Rolle und Entwicklung des Staates völlig falsch eingeschätzt. Küberl: Diese Prinzipien haben sich im Lauf der letzten 120 Jahre weiterentwickelt, auch verändert. Aber damit etwa Subsidiarität funktionieren kann, ist es unerlässlich, dass die kleineren Einheiten auch mit den nötigen Ressourcen ausgestattet werden. In der Praxis ist das allzu oft nicht der Fall. Die Familie ist zweifellos die größte soziale Erfindung der Menschheit, allerdings hat sich unser Verständnis enorm gewandelt. Hier hat auch die Kirche viel dazuzulernen, über die Jahrhunderte wurde vergessen, dass Gewaltlosigkeit in Beziehungen das Wichtigste ist. Inhaltlich ist längst die Globalisierung zur größten Herausforderung geworden. Der Geist ist aus der Flasche: Die Armen wissen, wo die Reichen wohnen. Und dieser Geist lässt sich nicht mehr zurückdrängen. Da kann man nur auf das Diktum von Benedikt XVI. verweisen, der gemeint hat, die Logik der Gier müsse durch die Logik der Solidarität ersetzt werden. Das ist eine fast perfekte heutige Definition der katholischen Soziallehre.

Mandl: Das Prinzip der Subsidiarität ist viel mehr als ein Plan für den Stufenaufbau eines Staates, vielmehr ist damit aus politischer Perspektive Freiheit und Verantwortung für jeden Einzelnen, und zwar dort, wo er sich bewegt, gemeint. Für unsere Ära der Globalisierung heißt das, dass es auch in der Politik eine globale Ebene geben muss, um all jene Fragen anzugehen, die nur hier zu lösen sind.

Aber entsprechen diese Prinzipien auch der Natur des Menschen? Solidarität lässt sich leichter delegieren als selbst zu leben; auch dass Eigentum soziale Verpflichtung bedeutet, wird auf freiwilliger Basis wohl nicht von jedem akzeptiert werden. Das Ergebnis ist ein Staat, der zu Steuerleistung verpflichtet. Küberl: Wir leben in einer unvollkommenen Welt, auch wenn das manche nicht glauben wollen. Wir haben in den letzten hundertzwanzig Jahre ein beachtliches System effizienter Sozialeinrichtungen zustande gebracht - das beginnt beim Gesundheits- und endet beim Pensionssystem. Es ist nicht perfekt, aber doch sehr beachtlich. Natürlich kann man sagen, das beruht auf Steuerzwang, aber ohne diese Solidaritätsgefäße würden wir schön dastehen. In einer komplexen Welt braucht der Einzelne konkrete Angebote, um Solidarität und Engagement leben zu können, ansonsten ist er schnell überfordert. Dass viele auch in Ruhe gelassen werden wollen, stimmt, aber man muss immer neue Wege finden, wie man Menschen vielleicht doch zu Engagement hinführen kann.

Mandl: Solidarität ist wahrscheinlich jenes Prinzip, das am häufigsten missverstanden wurde und den meisten Anfeindungen ausgesetzt ist. Ja, es gibt in Österreich ein hohes Maß an josephinischem Obrigkeitsdenken, begleitet von einer sehr hohen Abgabenquote. Für mich muss Solidarität jedoch persönlich gelebt werden, man kann sie nicht delegieren - auch nicht an den Staat mit Verweis auf die eigene Steuerleistung. Und wenn jetzt gewisse politische Kräfte den Bürgern vorgaukeln, man könne sich dieses Imperativs zur gelebten Solidarität entledigen, dann endet das unweigerlich im Chaos. Diese vorstaatliche Solidarität gehört meines Erachtens zu den vom deutschen Rechtsphilosophen Ernst-Wolfgang Böckenförde genannten Grundlagen des modernen Staates, die dieser Staat jedoch selbst nicht zur Verfügung stellen kann.

Küberl: Ich möchte das um einen Punkt ergänzen: Solidarität heißt auch, dass ich das Gemeinwesen nicht absichtlich ausnutze. Ein Politologe hat dies das Unglück der fortgesetzten Vorteilnahme genannt.

Ist nicht das Grundproblem, dass es kein Vertrauen in die freiwillige Solidarbereitschaft des Einzelnen gibt und deshalb das Mittel staatlich verordneter Solidarität das geringere Übel darstellt? Mandl: Ja, ich würde nur nicht alle Politiker in einen Topf werfen. Aufgabe von Politik ist es, zusammenzuführen und zu integrieren. Dazu braucht es die Idee eines Gemeinwohls. Wenn eine solche Idee fehlt, dann wird polarisiert statt integriert, was am Schluss zur Dominanz von Partikularinteressen und zu Konflikten führt. Und Vertrauen ist tatsächlich der Schlüsselbegriff, Vertrauen darin, dass Solidarität zu jeder Zeit gelebt und auch angenommen werden kann. Wir halten uns einen überbordenden, sehr, sehr teuren Staat und sind trotzdem ständig unzufrieden, was der Staat mit diesem Geld macht. Es fehlt auch an Transparenz.

Küberl: Die Debatte um Solidarität findet ja nicht im Kern der Gesellschaft statt, sondern an ihren Rändern, es geht um Obdachlose, Bettler, Roma und viele andere. Dabei muss man bedenken, dass Solidarität zwei Seiten hat: Die eine besteht für den Fall einer Notsituation im Anspruch darauf; die andere darin, dass dieser Anspruch mir von allen anderen auch zugestanden wird. Dass die Leute etwas für mich tun sollen, das gesteht jeder zu, die Nagelprobe ist immer beim Anspruch der anderen. Für Europa gilt, dass es sozial sein wird - oder eben gar nicht. Nur als gemeinsamer Markt wird die EU auf Dauer nicht funktionieren. In Rumänien gibt es das wunderbare Sprichwort "Nur wenn es meinem Nachbarn gut geht, geht es auch mir gut" - das gilt nicht nur für das Lokale, sondern heute auch für das Globale. Ich neige dazu, dass Politik mehr als alles andere eine gemeinsame Suche darstellt.

Personen

Franz Küberl, geboren 1953 in Graz, ist seit 1995 Präsident der Caritas Österreich, der Hilfsorganisation der katholischen Kirche. Küberl lebt in Graz, ist verheiratet und hat zwei Söhne.

Lukas Mandl, geboren 1979, studierte Handels- und Kommunikationswissenschaften in Wien; seit 2010 Generalsekretär des ÖVP-Arbeitnehmerbundes ÖAAB; Mandl lebt in Gerasdorf bei Wien.

Wissen

1891 veröffentlichte Papst Leo XIII. (1878 bis 1903) mit "Rerum Novarum" quasi die Mutter aller päpstlichen Sozialenzykliken. Darin nimmt die Kirche - spät, aber doch - erstmals explizit zur sozialen Frage Stellung, die im Laufe des 19. Jahrhunderts durch die Verelendung der neu entstandenen Arbeiterklasse massiv an Bedeutung gewonnen hatte.

Die Enzyklika wendet sich sowohl gegen Sozialismus als auch Liberalismus und plädiert stattdessen für einen Dritten Weg. Unterschiede zwischen den Menschen seien naturgegeben, jedoch müssten Arbeit und Kapital in Solidarität, Frieden und Einigkeit miteinander auskommen. Dabei habe der Proletarier die Pflicht, geschlossene Verträge einzuhalten und dem Arbeitgeber mit seiner Arbeit zu dienen. Der Kapitalist müsse demgegenüber die Würde des Arbeiters achten und sei zur Bezahlung eines gerechten Lohns verpflichtet. Ein Verstoß gegen diese "allerwichtigste Pflicht der Arbeitgeber" sei ein "großes Verbrechen, das um Rache zum Himmel schreit". Der Papst betont zudem die soziale Verpflichtung von Eigentum und plädiert für eine soziale Gesetzgebung des Staates.

Leo XIII. ging als "Arbeiterpapst" in die Geschichte ein.