Der afghanische Regierungsgeschäftsführer Abdullah Abdullah im Exklusivinterview mit der "Wiener Zeitung" über afghanische Flüchtlinge, die Performance der Einheitsregierung und die Friedensgespräche mit den Taliban.
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Nach einer monatelangen Hängepartie einigten sich im Vorjahr die Kontrahenten bei der afghanischen Präsidentschaftswahl, Ashraf Ghani und Abdullah Abdullah, auf eine Einheitsregierung. Angeführt wird sie von Präsident Ashraf Ghani, Abdullah Abdullah erhielt den Posten eines bisher in der Verfassung nicht vorhergesehenen Chief Executive, eine Art Regierungschef. Neben der politischen Transformation musste das Land auch die militärische Übergabe stemmen, der Nato-Kampfeinsatz im Land lief Ende 2014 aus. Seither kämpft die Regierung gegen die sich verschlechternde Sicherheits-, aber auch Wirtschaftslage, weshalb nun viele fliehen. Die "Wiener Zeitung" sprach mit Abdullah Abdullah über die aktuellen Herausforderungen.
"Wiener Zeitung": Vor fast genau einem Jahr wurde in Afghanistan das Abkommen über die Einheitsregierung unterzeichnet. Was konnte Ihre Regierung bisher erreichen?
Abdullah Abdullah: Nach so umstrittenen Wahlen ist die Formierung einer Einheitsregierung schon an sich eine Errungenschaft. Normalerweise führen umstrittene Wahlen in unserer Weltregion zu vielen Gefahren sowie Unruhe und machen es unmöglich, eine Einheitsregierung zu bilden. Darüber hinaus ist das Vermächtnis der Vorgängerregierung zweifelsfrei kein einfaches. Viele Menschen gingen davon aus, dass nach dem Abzug der internationalen Truppen die Taliban militärisch die Macht übernehmen würden. Das ist nicht passiert. Die sehr schwerwiegenden Angriffsserien wurden gestoppt und sie konnten keine wesentlichen Vorstöße mehr machen. Nichtsdestotrotz gab es viele Opfer, zivile wie militärische, das ist eine Tatsache des Lebens. Aber die Verantwortung für die Sicherheit des Landes zu schultern als Alternative zu einer 140.000 Mann starken internationalen Truppe - das war keine einfache Aufgabe. Gleichzeitig wurden im vergangenen Jahr wichtige Schritte bei den Themen Regierungsführung, politischer Prozess und Korruptionskampf unternommen. Nichtsdestotrotz sind die Menschen nicht zufrieden, sie sind nicht glücklich. Wir müssen hier noch einen stärkeren Fokus setzen.
Inwieweit kann Ihre Regierung unabhängig agieren? Beobachter führen hier oft die Einmischung von Warlords an oder den Druck, den andere Staaten auf Afghanistan ausüben.
Wenn es um Druck von anderen Staaten geht - wenn Sie also von den Erwartungen verschiedener Partnerländer Afghanistans sprechen -, dann sind das Erwartungen, die auch im Interesse unseres Landes und unserer Bevölkerung sind. Wir müssen unseren Bürgern Ergebnisse liefern. Gleichzeitig hat Afghanistan, das seit so vielen Jahren von ausländischer Hilfe abhängig ist, Partner, die uns geholfen haben, und diese haben auch Erwartungen. Das ist normal. Zum Thema Warlords: Wenn Sie über einflussreiche Menschen im Land sprechen, dann gibt es natürlich keine Zweifel, dass man in der Politik die Meinung einflussreicher Menschen nicht ignorieren kann. Jede Regierung weltweit hat das zu berücksichtigen, das ist nichts, was es nur in Afghanistan gibt.
Wir beobachten momentan erneut einen starken Anstieg an Menschen, die aus Afghanistan flüchten. Gleichzeitig ist die Zahl der Rückkehrer in Ihr Land ist auf den niedrigsten Wert der vergangenen sechs Jahre gefallen. Kann Ihrer Meinung nach die afghanische Regierung den Menschen vermitteln, dass sie eine Zukunft in ihrem Heimatland haben?
Leider verlassen unzählige Afghanen das Land, vor allem junge. Ich muss sagen, dass wir unserer eigenen Bevölkerung die Zukunft unseres Landes und die aktuellen Umstände besser hätten vermitteln sollen. Afghanistan hat in der Vergangenheit viele schwierige Zeiten durchgemacht. Die Situation hat sich in den vergangenen 14 Jahren aber verbessert. Vielleicht nicht so sehr, wie es die Menschen erwartet hatten. Gleichzeitig kann es nicht die Antwort sein, das Land zu verlassen. Die Antwort muss vielmehr sein, zusammenzuarbeiten und es gemeinsam aufzubauen. Ich übernehme die Verantwortung, sofern meine Rolle in der Regierung betroffen ist, aber insgesamt sind wir alle zuständig dafür, unserer eigenen Bevölkerung eine Zukunftsperspektive besser zu vermitteln. Und ungeachtet der aktuell schwierigen Umstände gibt es eine Zukunft für die Afghanen. Die viel, viel schwierigeren Zeiten liegen hinter uns.
Können Sie persönlich nachvollziehen, dass die Menschen aufgrund der schlechten Sicherheitslage das Land verlassen?
Zweifellos ist die aktuelle Sicherheitslage ein sehr wichtiger Faktor. Gleichzeitig machen sich die Menschen auch Sorgen über die zukünftige Sicherheitslage im Land. Und hier müssen die Afghanen viel stärker zusammenkommen, um die Verhältnisse zu ändern, anstatt die Hoffnung aufzugeben.
War der Abzug der internationalen Kampftruppen verfrüht?
Als der Abzug geplant wurde, hätte ein richtiger Übergabeplan ausgearbeitet werden sollen, um kein Vakuum zu hinterlassen. Das ist ein Faktum. Heute können wir diese Realität, diese Entscheidung nicht ändern. Es gibt keine Zweifel darüber, dass ein weitergehendes Engagement der internationalen Gemeinschaft zur Unterstützung unserer Sicherheitskräfte wichtig, sogar entscheidend ist.
Für wie gefährlich halten Sie lokale Milizen und Kommandeure, die an vielen Orten das nach dem Abzug der internationalen Truppen entstandene Sicherheitsvakuum gefüllt haben?
Wenn lokale Polizeieinheiten gebildet werden, in Absprache mit den militärischen und zivilen Behörden vor Ort, so sehen wir, dass dieser Zugang die richtigen Resultate bringt. Wenn es aber um lokale Kräfte geht, die überstürzt formiert werden, um mit Sicherheitsproblemen umzugehen und gleichzeitig die Probleme von bestimmten, wichtigen Persönlichkeiten anzugehen, so bringt das nicht die richtigen Ergebnisse. Unsere Erfahrungen damit sind also gemischt.
Eine zweite, bereits angesetzte Runde an Friedensgesprächen mit den Taliban wurde vor gut eineinhalb Monaten auf unbestimmte Zeit verschoben. Werden die Gespräche in der näheren Zukunft stattfinden?
Ein Termin ist nicht angesetzt. Wir glauben noch immer, dass die Taliban den Kampf aufgeben und sich dem Verhandlungstisch zuwenden sollen. Sie haben schon viele Jahre gekämpft und gesehen, dass es nicht möglich ist, einen militärischen Sieg zu erringen. Wenn es aber um Konkretes geht, ist diesbezüglich nicht viel auf dem Tisch.
Angenommen, es kommt irgendwann zu seriösen Friedensgesprächen mit den Taliban: Inwieweit wären Sie bereit, die Macht mit ihnen zu teilen?
Es ist sehr früh, darüber zu sprechen. Unsere roten Linien sind klar, dazu gehören Menschenrechte, Rechte der afghanischen Bürgerinnen und Bürger, die Art des politischen Regimes in Afghanistan - das sind Sachen, die keine Regierung der Welt verhandeln könnte. Frieden kann in unser Land auch nicht zurückkehren, wenn nicht die Waffen niedergelegt und Verbindungen zu Terrorgruppen aufgegeben werden. Ansonsten - in der Minute, in der sie sich dazu entscheiden, ihre Ziele nicht mehr militärisch und durch den Einsatz von Gewalt und Terror gegen die eigenen Bürger zu erreichen, sondern politisch, kann ein wahrer Wandel stattfinden.
Die Beziehungen zu Pakistan gleichen aktuell einer Achterbahnfahrt. Ihr Präsident, Ashraf Ghani, unterstützt von Ihnen, ist - unter Missfallen der eigenen Bevölkerung - sehr weit auf Pakistan zugegangen, um den Friedensprozess mit den Taliban voranzubringen. Nach dem verheerenden Dreifach-Anschlag in Kabul Anfang August hat aber praktisch die gesamte politische Führung, darunter auch Sie, mit scharfen Attacken auf Islamabad reagiert. Präsident Ghani hatte nach den Anschlägen Pakistan für die Gewalt mitverantwortlich gemacht.
Ich werde hier nicht auf die Details eingehen. Ich würde sagen, dass dies keine haltlosen Anschuldigungen waren. Es gibt bestimmte Bedingungen für freundliche Nachbarschaftsbeziehungen, darunter die Nichteinmischung in interne Angelegenheiten des anderen Landes. Was gesagt wurde, wurde vor dem Hintergrund gesagt, dass Afghanistan angegriffen wurde. Und Afghanistan wird seit 14 Jahren von Kräften von außerhalb des Landes attackiert, darüber besteht kein Zweifel. Dazwischen haben wir versucht, die Verhältnisse zu ändern. Es gab zuweilen positive Zeichen, zuweilen keinen Erfolg.
Wie werden Sie künftig mit Pakistan umgehen, nach den Erfahrungen, die Sie diesen Sommer gemacht haben?
Unsere Absichten, die Beziehungen mit Pakistan zu verbessern, werden sich nicht ändern. Was wir diesbezüglich aber heute machen und was morgen, wird von den Umständen abhängen, und genauso davon, wie unser Bemühen erwidert wird.
Abdullah Abdullah, geboren 1960 in Kabul, ist seit 2014 sogenannter "CE" - Chefverwalter - von Afghanistan und somit die Nummer Zwei im Land hinter dem Präsidenten Ashraf Ghani. Der Politiker bekleidete davor zwei Mal das Amt des Außenministers des Landes. Er galt als Vertrauter des 2001 ermordeten Ahmad Schah Massoud, Anführer des afghanischen Widerstands gegen die Taliban.