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Das lange Scheitern der Euro-Armee

Von Michael Gehler

Reflexionen

Vor 70 Jahren wurde die Europäische Verteidigungsgemeinschaft beschlossen, aber nie umgesetzt.


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In der Geschichte der Einigung des europäischen Kontinents gab es mehrere Anläufe, Diskussionen und Verhandlungen, um gemeinsame Streitkräfte in einer überstaatlichen Organisation aufzubauen. Die jahrzehntelangen Bestrebungen gleichen einem endlosen Drama in mehreren Akten, wobei der Ausgang bis zuletzt offenblieb. Der Ukrainekrieg könnte nun zum definitiven Ende der Idee einer Europaarmee führen.

Die deutsche Frage

Wie Deutschlands Rolle nach Kriegsende zu gestalten sein sollte, war umstritten. Von 1943 bis 1948 konkurrierten verschiedene Konzepte der Alliierten. Eine Wende in der Deutschlandpolitik der Westmächte trat 1947 ein, als die USA angesichts der kommunistischen Bedrohung aus dem Osten sowie der dortigen Transformation in politische Einparteien-Systeme und sozialistische Planwirtschaften entschieden, den Morgenthau-Plan zurückzustellen und ein europäisches Wiederaufbauprogramm, den Marshall-Plan, anzukündigen.

Die deutsche Wirtschaft sollte der Motor sein. Statt der französischen Zielsetzung von Kontrolle durch Integration ging es nach amerikanischer Vorstellung um Kooperation durch Integration Westdeutschlands.

Der deutsche Außenminister Adenauer unterzeichnet den NATO-Beitritt in Paris 1955 anlässlich der Feierlichkeiten zehn Jahre nach der deutschen Kapitulation.
© SWR

Um nicht ins Hintertreffen zu geraten und deutschlandpolitischen Einfluss zu verlieren, wurden in Paris Initiativen gleichsam aus der Not geboren: Der Schuman-Plan vom 9. Mai 1950 diente zur Schaffung einer Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS), um die deutsche und französische Stahlproduktion zu fusionieren, während der Pleven-Plan zur Bildung einer Europaarmee führen sollte. Außenminister Robert Schuman (1948-1952) sowie Verteidigungsminister (1949- 1950) und Ministerpräsident (1950-1951) René Pleven unternahmen im kleinen Zeitfenster bis zum Wiedererstarken der Anhänger de Gaulles und seiner Rückkehr an die Macht gemeinschaftseuropäische Schritte, die im Falle der EGKS Fundamente der heutigen EU bilden. Schon während der Aushandlung des Montanvertrages ging es auch um einen deutschen Verteidigungsbeitrag.

Der Pleven-Plan entstand in Folge des Drängens der USA auf einen bundesdeutschen Wehrbeitrag nach dem Korea-Schock. Der Kriegsbeginn in Fernost am 25. Juni 1950 und die Angst vor den Kommunisten prägten die Stimmung in Westeuropa. Das entschiedene Engagement der USA zugunsten einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) erklärt sich aus dem Ziel der Stärkung Westeuropas gegen die UdSSR. Es ging um doppelte Eindämmung durch eine multilaterale Organisation, die den Einfluss der Sowjetunion zurückdrängen und gleichzeitig die BRD kontrolliert aufrüsten sollte.

Eine eigenständige deutsche Armee wollte Pleven verhindern. Im europäischen Rahmen sah er hingegen eine Chance zur Wahrung der französischen Position gegenüber den Deutschen. Er schlug mit Zustimmung der Nationalversammlung am 24. Oktober 1950 eine Europa-Armee vor. Die Einheiten sollten bis zur Ebene von 43 Divisionen national, höhere Formationen, das Kommando und die Versorgungsorganisation supranational (nicht in deutscher Hand) sein sowie Ausbildung, Ausrüstung, Bewaffnung, Dienstzeiten und Militärstrafrecht vereinheitlicht werden. Aus den Verhandlungen ging am 9. Mai 1952 ein Textentwurf hervor, und am 27. Mai unterzeichneten die sechs Gründerstaaten der Montanunion (Benelux, BRD, Italien und Frankreich) in Paris den EVG-Vertrag.

Pariser Vorbehalte

Wiederholte Revisionen waren notwendig, da die Bestimmungen die Deutschen diskriminierten, wodurch ihre Integration fraglich wurde. Die französische Debatte war geprägt von Ängsten vor einer neuen deutschen "Wehrmacht" einerseits und der bedrohlich erscheinenden Machtstellung der Sowjetunion andererseits; vor allem Rücksichtnahmen auf deren Sicherheitsinteressen und die Frage, wie auf diplomatische Gegeninitiativen des Kremls zu reagieren sei, wurden erörtert.

Die Sechs ohne Steuermann: eine EVG-kritische Karikatur des niederländischen Zeichners Opladen, 1954.
© Archiv

Die Anhänger sahen in der EVG eine Chance, die deutsche Aufrüstung einzurahmen und hinzunehmen. In parlamentarischen Kreisen formierte sich jedoch unter Gaullisten und Kommunisten Widerstand, zumal durch eine Europaarmee negative sowjetische Reaktionen zu befürchten waren und ein erneuerter Ost-West-Dialog nicht belastet werden sollte. Mit der einsetzenden Entspannung nach Stalins Tod am 5. März 1953 wurde die Umsetzung der EVG in Frankreich als weniger notwendig empfunden. Hinzu kam die französische Niederlage in Indochina im Mai 1954 bei ausgebliebener US-Unterstützung, was eine anti-amerkanische Stimmung auslöste.

Eine Sechs-Mächte-Konferenz vom 19. bis 22. August 1954 in Brüssel konnte mit der französischen Regierung Mendès-France kein Einvernehmen zur Aufstellung einer Europaarmee unter deutscher Beteiligung herstellen. Das Thema wurde folglich am 30. August von der Tagesordnung der Assemblée nationale einfach abgesetzt. Guter Rat war teuer, sollte die Westintegration der BRD fortgesetzt werden, um neuerliche Initiativen zur Neutralisierung Deutschlands durch die Sowjetunion abzuwehren.

NATO als Ersatz

Eine Neun-Mächte-Konferenz vom 28. September bis 3. Oktober 1954 in London erzielte schließlich den Durchbruch: Belgien, die BRD, Frankreich, Großbritannien, Italien, Kanada, Luxemburg, die Niederlande und die USA einigten sich auf eine Schlussakte, die den Rahmen für die Aufstellung bundesdeutscher Streitkräfte, ihre Integration in ein westeuropäisches Verteidigungssystem und die NATO-Mitgliedschaft der BRD festlegte. Diese verzichtete daraufhin im Gegenzug auf die Produktion und Verwendung von ABC-Waffen, schwerer Rüstungsgüter, etwa weitreichender ferngelenkter Geschosse, sowie großer Kriegsschiffe und U-Boote.

US-Diplomat George Frost Kennan.
© IAS

Auf der anschließenden Pariser Konferenz vom 20. bis 23. Oktober 1954 segneten die Westmächte und die übrigen NATO-Mitglieder die erarbeiteten Expertenergebnisse ab. Angloamerikanisches Krisenmanagement der Außenminister Anthony Eden (GB) und John Foster Dulles (US) half entscheidend mit, aus der Sackgasse des durch Frankreich blockierten Sicherheitsprojekts für die Westdeutschen herauszukommen. Ministerpräsident Pierre Mendès-France war es möglich, durch ergänzende Regelungen die deutsche "Wiederbewaffnung" und den NATO-Beitritt der Bundesrepublik den Kritikern im Land und dem Parlament schmackhafter zu machen, was aufgrund der gleichzeitigen bundesdeutschen Mitgliedschaft in der Westeuropäischen Union (WEU) durch Rüstungskontrolle und den Verzicht auf ABC-Waffen sowie die Belebung der deutsch-französischen Wirtschaftsbeziehungen, eine engere Kooperation auf dem Kriegsmaterialiensektor (EGKS, NATO) und Vereinbarungen in der Saarfrage gelingen sollte.

Einmal von der Tagesordnung abgesetzt, blieb das Thema Europaarmee jahrzehntelang tabu. Erst die Umwälzungen der Jahre 1989 bis 1991 mit dem Zerfall der Sowjetunion eröffneten neue Chancen. Im Zuge der deutschen Einigung, die eine geopolitische Revolution in Mitteleuropa nach sich zog, musste aus der Sicht der übrigen EG-Mitglieder ein festerer Integrationsrahmen für das größer gewordene vereinte Deutschland geschaffen werden.

Der 1991 unterzeichnete Unionsvertrag von Maastricht sah nach dem Willen von François Mitterrand und Helmut Kohl eine Reaktivierung der WEU als eigenständigen sicherheitspolitischen Pfeiler der zukünftigen EU vor. Dieses Vorhaben stieß jedoch aufgrund seines Charakters als mögliches Konkurrenzprojekt zur NATO auf Seiten der USA, der Hauptmacht des transatlantischen Bündnisses, auf Ablehnung. Präsident George H. W. Bush intervenierte gegen die deutsch-französische Initiative, die WEU als verteidigungspolitische Säule der EU und ein "Eurokorps" zum Nukleus einer eigenständigen europäischen Sicherheitsstruktur auszugestalten. Als sicherheitspolitisches EU-Projekt verlief die WEU daher im Sande. Ihre sogenannten Petersberger Aufgaben von 1992 wurden letztlich in den Unionsvertrag von Amsterdam von 1997 übernommen. Die WEU ging in der EU auf und wurde 2011 schließlich aufgelöst, was auch auf die allianzfreien und neutralen EU-Mitglieder zurückging, die einen zwingenden Beistand nicht akzeptierten. Die Mehrheit der neuen EU-Länder aus Mittel- und Südosteuropa setzte zudem klar auf die NATO.

Vorstöße für EU-Armee

Aufgrund der sich seit 2014 steigernden Spannungen zwischen Russland und der Ukraine im Zeichen der Krim-Annexion und des Kriegs in der Ostukraine schlug EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker am 8. März 2015 eine "europäische Armee" vor, um "auf eine Bedrohung des Friedens in einem Mitgliedsland oder in einem Nachbarland der EU besser reagieren zu können". Dies würde Russland klarmachen, dass es die EU ernst meinen würde mit der Verteidigung ihrer Werte. Das sollte "aber keine Konkurrenz zur NATO sein, sondern Europa stärken". Vorstöße für eine EU-Armee kamen 2016 auch aus Tschechien und Ungarn. Italien trat für eine Verteidigungsunion von Willigen ein. Deutschland und Frankreich empfahlen Kooperationen bei Satellitenaufklärung, Transportlogistik und medizinischer Versorgung. Ein EU-Hauptquartier in Brüssel sollte zivile und militärische Einsätze koordinieren.

Das Noch-EU-Mitglied Großbritannien und das nicht an der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) der EU beteiligte Dänemark sowie Estland, Lettland und Litauen lehnten jedoch die Schaffung von EU-Strukturen, die auf militärischer Ebene in der NATO bereits existierten, ab. Eine Mitwirkung an GSVP-Operationen unterliegt nach wie vor der freiwilligen Entscheidung eines jeden Mitgliedstaates. Die bisherigen Schwerpunkte der Einsätze waren der "Westbalkan" und Länder Afrikas.

Die Ausrichtung der GSVP erfolgte weiterhin eng in Abstimmung mit der NATO, um kostspielige Doppelgleisigkeiten zu vermeiden. Die überwiegende Mehrheit der 27 EU-Staaten besteht aus NATO-Mitgliedern und betrachtet laut dem österreichischen Sicherheitsexperten Gunther Hauser die transatlantische Allianz als "primäre Verteidigungsorganisation" in und für West- und Mitteleuropa.

Paris setzte mit der Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit (PESCO) sodann auf eine Kerngruppe von ambitionierten, militärisch gut ausgerüsteten Staaten, während Berlin im Gegensatz dazu so viele Staaten wie möglich beteiligen wollte. Engere Kooperation innerhalb der Verteidigungsindustrie und effizientere Verzahnung der Fähigkeiten von NATO und EU sind die Ziele, denn letztlich streben weder Deutschland noch Frankreich eine EU-Armee an. Die GSVP versteht sich daher nicht als Gegenstück zur NATO, sondern als Ergänzung.

NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg bekräftigte den Nutzen von Synergien. Auf dem NATO-Gipfel von Wales vom 4./5. September 2014 wurde beschlossen, die Verbündeten mit einer schnellen Eingreiftruppe abzusichern. Beim NATO-Gipfel in Warschau vom 8./9. Juli 2016 wurde die Stationierung von vier internationalen Bataillonen im Baltikum und in Polen vereinbart. Die European Reassurance Initiative (ERI), die die US-Regierung unter Barack Obama für 2017 beantragte, sollte Milliarden von US-Dollars in den östlichen Bündnispartnern zur Abschreckung Russlands investieren.

Laut Gunther Hauser bestand eine Doppelstrategie zwischen EU und USA, einerseits so viel Rückversicherung wie nötig, andererseits so viel Vertrauensbildung und Zusammenarbeit wie möglich zu gewährleisten, die jedoch Donald Trump hinterfragte. Er ließ durchblicken, dass eine automatische Beistandsverpflichtung der USA im Rahmen der NATO, etwa im Fall eines russischen Angriffes auf die baltischen Staaten, davon abhängig gemacht werden könnte, inwieweit diese Länder "ihre Verpflichtungen gegenüber den USA" erfüllt haben. Dieser Erpressungsversuch machte die Abhängigkeit der europäischen NATO-Partner vom Wohl und Wehe eines US-Präsidenten deutlich.

Strategische Autonomie

Die von Brüssel seit längerem lancierte Formel von "strategischer Autonomie" wurde vom finnischen Verteidigungsminister schon Jahre vor der russischen Ukraine-Invasion nicht als Alternative zur NATO verstanden. Helsinki unterzeichnete mit den USA 2016 eine bilaterale Absichtserklärung über Verteidigungskooperationen und zwei Jahre später mit Schweden ein gleichartige trilaterale Interessensbekundung.

Die NATO-Ambitionen der beiden skandinavischen Staaten sind also nicht erst seit dem 24. Februar 2022 aktuell. Die litauische Verteidigungsministerin bezeichnete die Debatte über eine EU-Armee zuvor schon als schädlich für die Basis der NATO, sei diese doch für die baltischen Staaten und Polen das alleinige Fundament für die Verteidigung West-, Mittel- und Südosteuropas. Man fühlt sich offenbar durch die NATO mehr geschützt als durch die EU, gleichwohl weder der Artikel 42/7 des Unionsvertrags von Lissabon noch Artikel 5 des NATO-Vertrags eine strikte, sprich obligatorische Beistandspflicht vorsehen.

Praktisch bedeutet der Ukrainekrieg Russlands das Ende der Phantom-Debatte über eine EU-Armee. Abgesehen von der bisherigen Uneinigkeit der EU-Mitgliedstaaten, unterschiedlichen Sicherheitslagen und -verständnissen sowie dem mangelnden politischen Willen, bis vor kurzem nationale Streitkräfte effizienter auszurüsten und den Herausforderungen in veränderten Einsatzgebieten anzupassen, fehlte es bis zuletzt auch am Willen zur Entwicklung einer europäischen Strategie, das heißt die Antwort auf die Frage, welchen Auftrag Streitkräfte aus EU-Mitgliedsländern innerhalb der GSVP erhalten sollten.

Gleichwohl die dafür benötigten Fähigkeiten und Mittel noch nicht bestimmt sind, wären sie für den Fall einer "strategischen Autonomie" notwendig. Innerhalb der EU mangelt es auch immer noch an einer Definition, wie "Europa" im Verteidigungsfall sich schützen soll und welche koordinierten militärischen Fähigkeiten daraus abgeleitet Streitkräfte aus EU-Staaten haben sollten. Seit dem Ukrainekrieg geht es nun um die unvermeidlich erscheinende Erhöhung des BIP-Anteils auf zwei Prozent für die Stärkung der NATO und entsprechende Steigerungen der nationalen Verteidigungsinvestitionen.

Nüchternes Fazit

Die französische Ablehnung der EVG von 1954 führte zur NATO-Mitgliedschaft der BRD und trug damit zu einer verstärkten euro-atlantischen Sicherheitsgemeinschaft bei. Ohne die Deutschen wäre eine wirksame NATO auch kaum denkbar gewesen. Frankreichs Entscheidung beförderte zudem die Festschreibung der US-Militär- und Nuklearwaffen-Präsenz am westlichen Kontinent.

Mangels einer eigenständigen europäischen Militärorganisation konnte die von den USA getragene NATO seit Ende der 1990er Jahre ihre Erweiterung um die Mitte und den Osten Europas zur Verdrängung Russlands an die europäische Peripherie fortführen, was der namhafte US-Diplomat George F. Kennan als "Fortsetzung des Kalten Krieges" bezeichnete.

Man vermag sich heute kaum mehr vorzustellen, welche Chancen 1954 durch Frankreichs EVG-Veto für ganz Europa vergeben wurden, sich militärisch neben der 1949 von den USA initiierten NATO für alle Zukunft eigenständiger aufzustellen. Seit dem Ukrainekrieg und angesichts des Bedeutungszuwachses der NATO werden sich die sicherheits- und verteidigungspolitischen Strukturen der EU kaum mehr in Richtung europäischer Vergemeinschaftung entwickeln können.

Michael Gehler, geboren 1962 in Innsbruck, ist Professor für Neuere Geschichte an der Universität Hildesheim und an der Andrássy Universität Budapest.