Zum Hauptinhalt springen

Das Leiwandste

Von Severin Groebner

Kommentare
Severin Groebner ist Kabarettist und Autor ("Lexikon der Nichtigkeiten"), alles Wissenswerte über ihn und von ihm gibt es unter http://www.severin-groebner.de. Aufgrund der Exekution der "Wiener Zeitung" in der derzeitigen Form seitens der Bundesregierung erscheint diese Kolumne nach mehr als elf Jahren zum letzten Mal am 24. Juni 2023 an dieser Stelle. Der "Glossenhauer" existiert aber als Newsletter weiter. Anmeldung per Mail bitte an: info(at)severin-groebner.de

Wie heißt das österreichische Ausweisdokument? Ski-Pass.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 2 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Selten glauben Wissenschafter, dass ausgerechnet von ihrem Fachgebiet zuviel gesprochen wird. Meteorologen, die vor einem inflationären Gebrauch der Wettervorhersage warnen, sind mir ebenso wenig bekannt wie Quantenphysiker, die mahnen, es würde zuviel über theoretische Physik und die atomare Struktur der Materie geredet. Wahrscheinlich deshalb, weil das auch kaum jemand versteht.

Was aber jeder zu verstehen glaubt, ist Geschichte. Sogar kleinwüchsige frühere russische Geheimdienstmitarbeiter sind sich sicher, ganz viel von Historie zu verstehen. Umso interessanter, wenn ein echter Fachmann auf diesem Gebiet, Yuval Harari, in der Diskussion mit zwei ähnlich gestrickten Geistern, Timothy Snyder und Ivan Krastev, zur Erkenntnis gelangt: Wir leiden an zuviel Geschichte.

Hararis These ist einfach: Da die Zukunft so besorgniserregend ist, beschließen mehr und mehr Menschen, sich von ihr abzuwenden und in die Vergangenheit zu flüchten. In eine glorreiche, großartige, gut gesinnte Geschichte, die genau so niemals stattgefunden hat. Als Problemlösungsstrategie ist das in etwa so, als ob man ständig Streit mit dem/r Ehepartner/in hat, und statt den/die Alte/n zu verlassen oder eine Paartherapie zu versuchen, schaut man sich immer nur die alten, gestellten Hochzeitsfotos an. Menschlich verständlich, hilft aber nichts.

Diese Verdrängungsstrategie ist zur Zeit auch im Wintersport zu beobachten. Unaufhörlich wirbt Österreich mit Begriffen wie "Winterliebe" und "verschneiten Wäldern" um Urlauber, garniert die Verheißungen mit Bildern, die entweder aus dem späten 20. Jahrhundert stammen oder über 3.000 Meter aufgenommen worden sein müssen, und lockt Menschen so in die Alpen. Nur, was finden die dann dort?

Die Web-Cams der Wintersportorte zeigen strahlenden Sonnenschein und ein dünnes, weißes Band, das sich durch braune Berge und ergrünende Almwiesen schlängelt. Bei 13 Grad plus. Das mag - vielleicht - Sport sein, Winter ist es nicht.

Egal, schließlich beginnt die österrreichische Verfassung mit den Worten: "Österreich ist eine demokratische Republik, und Skifahren ist das Leiwandste, was man sich nur vorstellen kann, Ou ou ou ou!" Und auch wenn alle Skigebiete unter 1.600 Meter Seehöhe verschwinden werden, wie jeder weiß, der sich nur einmal länger als drei Minuten mit dem Thema Klimawandel beschäftigt, wird weiter mit Fotos geworben, die aussehen, als würden die 1970er niemals enden. Ou ou ou ou!

Auch die Tourismusstaatssekretärin bleibt im Interview standhaft: Sie erwarte einen Kälteeinbruch (sicher, die Eisheiligen kommen schon im Mai), und die Buchungslage sei gut. Teilweise schon fürs nächste Jahr. Ja, es wird alles super bleiben, weil alles super bleiben muss. Gatschwandern ist der neue Riesenslalom, und Waldbaden wird demnächst olympisch. Ou ou ou ou!

Das geht so lang, bis eines Tages ein Liftbetreiber im Jänner auf 2.500 Meter Seehöhe bei 22 Grad plus von seiner Bergstation den Blick ins Tal schweifen lässt über eine vom Industrial-Tourismus zerklüftete Landschaft, die aussieht wie eine Geröllhalde mit Musikbeschallung, und zur Erkenntnis gelangt: Wir leiden an zuviel Skifahren. Ou ou ou ou!