Zum Hauptinhalt springen

Das letzte Aufbäumen

Von Clemens Neuhold und Ina Weber

Politik

Bei der neuerlichen Besetzung der Votivkirche bat die Kirche nun die Polizei um Räumung.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 11 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Wien. Ein ruhiger Sonntag vor der großen Wahl. Im ORF-Pressezentrum haben Neos, Piraten und KPÖ soeben eine launige "Zwergenrunde" hinter sich; in der Berggasse im 9. Wiener Bezirk empfängt Bundeskanzler Werner Faymann seine Unterstützer, allen voran Nobelpreisträger Eric Kandel. Es geht um die Zukunft des Landes nach der Wahl.

Einstweilen beschließt unweit davon eine Gruppe von 17 pakistanischen Flüchtlingen, die keine Zukunft und Wahl mehr haben, die Wiener Votivkirche nach der Sonntagsmesse nicht mehr zu verlassen. Sie besetzen sie. Wieder einmal. So wie vor neun Monaten, als die Kirche erstmals besetzt wurde. Sie setzen sich im kleinen Kreis zusammen, die Kirche wird abgeriegelt. Draußen formieren sich über den Nachrichtendienst Twitter Aktivisten und skandieren: "Bleiberecht für alle - Abschiebung ist Mord", "Flüchtlinge bleiben, Mikl-Leitner vertreiben", "Kein Mensch ist illegal". Journalisten und Fotografen versammeln sich vor der Kirche. "Ich hab’ ein Déjà-vu", sagt einer.

Geduld am Ende

Das stimmt und stimmt doch nicht. Diesmal ist die Situation anders als in kalten Dezembertagen 2012. Die Votivkirche, die als Symbol steht für das Aufbäumen von Flüchtlingen gegen die ungewisse Zukunft in der Heimat, will das nicht mehr sein. Sie will wieder Kirche im Normalbetrieb sein. Diesmal hat die Erzdiözese Wien die Räumung beantragt. Dutzende Polizisten schirmen die Demonstranten ab und sichern Vorder- wie Hintereingang. "Schäm’ dich, Kirche", ruft eine Aktivistin. Ein Flüchtling wird später sagen: "Ich dachte, das ist ein heiliger Ort." Warum der Meinungswandel jener Kirche, die im Winter die Polizei noch draußen hielt?

"Es ist eine Illusion, dass es so etwas wie ein Kirchen-Asyl gibt", sagt der Sprecher von Erzbischof Christoph Schönborn, Michael Prüller, zur "Wiener Zeitung". Die Kirche würde nicht mehr Schutz bieten als das Servitenkloster. "Im Kloster hat jeder sein Zimmer und ist willkommen. Vor der Abschiebung kann sie kein Gebäude bewahren", sagt Prüller. In das Kloster zogen die Flüchtlinge im Frühjahr um.

Zusammen mit einem Rechtsanwalt und einem Arzt, die sich seit Monaten um die Flüchtlinge kümmern, hat Prüller gerade auf die Flüchtlinge eingeredet, die Kirche freiwillig zu verlassen. Sie wissen, dass diese Aktion die Situation nur verschlimmert - vor allem im aufgeheizten Wahlkampf. "Wir haben ihnen versichert, dass sie nicht in Schubhaft kommen, in Ruhe eine Pressekonferenz abhalten und dann ins Kloster zurückkehren können. Doch sie sind so verzweifelt, dass sie für rationale Argumente nicht mehr empfänglich sind", sagt Prüller.

FPÖ auf Knopfdruck

Die Wahlkampfmaschinerie hat das Thema mittlerweile entdeckt. Über den Newsticker prangert die FPÖ das "endgültige Scheitern der österreichischen Asylpolitik" an und nennt die Flüchtlinge "Mitglieder der Asyl- und Bettelmafia". Innenministerin Johanna Mikl-Leitner verwehrt sich gegen solche "politischen Profilierungsversuche auf dem Rücken der Betroffenen". Doch sie stellt ausdrücklich klar: "Wer nicht freiwillig ausreist, muss zwangsweise abgeschoben werden, sobald Pakistan die Ausreisezertifikate ausgestellt hat. Und das ist nur eine Frage der Zeit."

Drinnen in der Kirche stellt mittlerweile die Fremdenpolizei die Identität der Flüchtlinge fest. Wird nun doch über einige Schubhaft verhängt? Dann würde draußen die Situation wohl eskalieren.

Die Kirchenbesetzer befinden sich entweder in einem Verfahren oder haben bereits einen negativen Asylbescheid erhalten. Nur wegen des "gelinden Mittels" sind sie nicht bereits in Schubhaft und können sich noch frei bewegen. Acht wurden bereits nach Pakistan abgeschoben.

Dann geht das Tor auf und die Ersten kommen aus der Kirche. Friedlich, ohne Zerren, ohne Widerstand. "Wir wollen eine faire Lösung", sagt ein Flüchtling, der für alle spricht in den Mikrofonwald vor ihm. "Wir wollen nicht in einem Heim sitzen, wir wollen Jobs und Bildung. Stattdessen bekommen wir nur falsche Versprechen." Dann kommt ein zweiter Flüchtling heraus. Er hat Tränen der Wut und Resignation in den Augen. Sein Körper bebt. Er heißt Khan Adalat.

Wo geht er jetzt hin? Zurück ins Kloster? Er zuckt mit den Schultern. "Wir wollen nicht zurück." Meint er das Kloster oder Pakistan? Wohl beides. Für ihn war eine Polizeikontrolle im Kloster um sieben in der Früh der Grund, warum er wieder in die Votivkirche zurückgekehrt ist.

Er spricht von einem "langen Marsch nach Brüssel", den sie jetzt antreten könnten. Mit so einem Marsch vom Flüchtlingslager Traiskirchen nach Wien hat alles begonnen.

"Das wird nur missbraucht"

Der einzige anwesende Politiker ist der Grüne Klaus Werner-Lobo. Er kennt den Plan vom Marsch und rät ihnen davon ab. Was würde sich in Deutschland ändern? "Wir haben ihnen auch schon in der Früh abgeraten, die Kirche zu besetzen. Im Wahlkampf wird das Thema nur missbraucht."

Auch die Erzdiözese will sich weiterhin für die Flüchtlinge einsetzen. Die Asylbehörden sollen stärker berücksichtigen, wie gefährlich eine Abschiebung nach Pakistan ist." Doch die meisten haben einen negativen Bescheid, zwölf stehen kurz vor der Abschiebung. Werner-Lobo setzt auf die Zeit nach der Wahl, wenn die "Wogen geglättet sind". Dann wollen die Grünen auf eine "Duldung" drängen. Damit ist der Flüchtling (befristet) nicht abschiebbar.

Gegen 15 Uhr ist die Kirche wieder leer. Keine Schubhaft wird verhängt. Flüchtlinge und Polizisten gehen friedlich ihres Weges. Es ist ein Frieden ohne Hoffnung.

Chronologie

24. November 2012: Asylwerbern macht sich per "Protestmarsch" vom Erstaufnahmezentrum in Traiskirchen nach Wien auf. Zentrale Forderungen sind etwa Dolmetscher in Traiskirchen sowie bessere Verköstigung. Sie protestieren im Siegmund-Freud-Park vor der Votivkirche.

18. Dezember 2012: Sie besetzen die Votivkirche. Die Erzdiözese Wien und Caritas verhindern eine Räumung. Die Kirche sei ein Schutzraum.

21. Dezember 2012: Die Caritas bietet Ersatzquartiere an.

27. Dezember 2012: Sie treten in einen Hungerstreik.

31. Dezember 2012: Kardinal Christoph Schönborn besucht die Asylwerber in der Votivkirche.

2. Jänner 2013: Innenministerin Mikl-Leitner trifft mit vier Vertretern der Flüchtlingen zusammen. Vier Flüchtlinge werden - während sie sich nicht in der Kirche aufhalten - von der Polizei aufgegriffen und in Schubhaft gesteckt.

22. Jänner 2013: Die Flüchtlinge beschließen, ihren Hungerstreik zu unterbrechen.

1. Februar 2013: Die Flüchtlinge nehmen den Hungerstreik wieder auf.

13. Februar 2013: Bundespräsident Heinz Fischer appelliert an die Flüchtlinge, in die von der Kirche angeboten Ausweichquartiere umzusiedeln.

18. Februar 2013: Die Flüchtlinge setzen Hungerstreik aus.

3. März 2013: Die Flüchtlinge ziehen von der Votivkirche ins Wiener Servitenkloster.

26. Juli 2013: Die Polizei verordnet für mehr als 20 der Asylwerber das "gelindere Mittel" - sie müssen sich nun täglich bei der Polizei melden.

28. Juli 2013: Zehn der Asylwerber werden festgenommen.

29. Juli 2013: Die ersten acht der Votivkirchen-Flüchtlinge werden abgeschoben.

30. Juli: Drei weitere Männer werden wegen Verdachts der Schlepperei festgenommen.

22. September: 25 Flüchtlinge besetzen erneut Votivkirche.