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Das letzte Geheimnis der Erde

Von Christof Habres

Reflexionen
Ist die Erde doch eine Scheibe? Mathias Kesslers Kunstprojekt begibt sich auf die Spuren der "Flat Earth Society".Foto:Mathias Kessler
© © Mathias Kessler copyright, www.m

Fotografische Vermessung seit Mitte des 19. Jahrhunderts im Einsatz. | Von der Abbildung topographischer Details bis zu Google Earth. | Die Vermessung der Welt als ewiger künstlerischer Topos.


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Fast wäre der Bauingenieur Meydenbauer vom Gerüst am Dom von Wetzlar gefallen. Er wollte den Dom noch händisch vermessen. Ein aufwendiges wie gefährliches Unterfangen. Dieser Schreck brachte ihn 1858 auf den Gedanken, eine sicherere "Messbildkunst" zu entwickeln. Damit dem Forscherdrang, die Erde vermessungstechnisch immer exakter erfassbar zu machen, weitgehend risikolos nachgegangen werden kann. Durch Meydenbauers Ansatz - und den anderer Forscher - wurde die Fotografie essenzieller Bestandteil der Erfassung und Vermessung von Landschaften und Städten. Der Anfang der Entwicklung zur topografischen Fassbarkeit der Welt, als deren letzte Errungenschaft Google Earth und Google Street View gelten können.

Die Pioniere dieser Vermessungstechnik wurden körperlich sehr in Anspruch genommen. Da mussten die verschiedensten Apparate noch auf Berge geschleppt werden, wenn es darum ging, ein Gebirge zu erfassen. Und Aufnahmen wurden von mehreren Standorten gemacht, um die Genauigkeit der Messung zu steigern. Die Fotografien wurden zu einem Panorama zusammengefügt und danach in einem aufwendigen Verfahren, in dem einzelne wiedererkennbare Punkte, auffällige Details der Landschaft, umgerechnet und in einer Karte eingezeichnet. Diese Vorgehensweise verlangte viel Zeit, Ausdauer und künstlerisches Geschick. Immer begleitet von der Diskussion über Berechnungsarten, wie fotografische Daten in relevante Messdaten, zum Beispiel innerhalb eines metrischen Systems, umgewandelt werden können. Diese Diskussion war Kennzeichen der ersten Jahrzehnte der Geschichte fotografischer Messbilder und trieb mitunter eigenartige Blüten.

Flaubert als Maßstab

So diente der französische Romancier Gustave Flaubert seinem Freund und Begleiter Maxime du Camp auf ihrer Reise 1849 nach Ägypten als Maßstab, wie Helmuth Lethen vom IFK (Internationales Forschungszentrum Kulturwissenschaften) anlässlich der Konferenz "Die totale Erfassung der Welt" anmerkte. Er musste sich für den Fotografen immer wieder direkt neben antike Monumente, wie Pyramiden, Säulen oder Tempelanlagen, stellen und wurde von du Camp aufgenommen. So konnte er im Nachhinein mit dem Wissen der Körpergröße des Schriftstellers ausrechnen, welche Ausmaße die Bauten hatten. Eine etwas eigene, aber sehr originäre Art der Vermessung der Welt. Die aber deutlich macht, auf welche Mittel damals zurückgegriffen werden musste, um einigermaßen relevante Messdaten zu bekommen.

Wobei die Verwendung der Fotografie als Vermessungstechnik seit damals tiefgreifendere Fragen aufwirft. Nicht nur technische Fragen, die sich um Perspektivenwechsel, die Schärfe der Abbildungen oder die Dokumentation bestimmter Flächenphänomene drehen. Sondern auch Fragen, die sich mit dem Interpretationsbereich zwischen Dokumentation und Kunst beschäftigen. Immer wieder wurden, wenn Fotografie als Vermessungsinstrument verwendet wurde, die Bilder von Forschern als ästhetischer Überschuss bezeichnet. Ein Endprodukt mit künstlerischem Anspruch, für die Forschung aber wertlos. Auch die händisch hinzugefügten Markierungen auf Fotografien oder einzelne Zeichnungen von Karten verweisen auf einen immanenten künstlerischen Gestus.

Es ist interessant zu beobachten, dass sich heutzutage zeitgenössische Künstler intensiv mit dieser Fragestellung, der Erfassung und Vermessung der Welt als Thema der bildenden Kunst, auseinandersetzen. Mit den Medien Fotografie und Zeichnung, wie das Beispiel der österreichischen Künstler Michael Höpfner und Mathias Kessler zeigt: Michael Höpfner durchstreift immer wieder - alleine und zu Fuß - die entlegensten Winkel der Welt, wie afrikanische Wüsten oder den Himalaya. Monatelang. Durch seine Wanderungen bekommt der Begriff "Erfassung der Welt" neben einer dokumentarischen, auch eine individuell-philosophische Ebene. Auf diesen Reisen fertigt Höpfner basierend auf Landkarten der Bevölkerung topographische Zeichnungen und minimalistische SW-Fotografien der meist kargen Landschaft, die oft die perspektivische Wahrnehmung von Distanzen und Größenverhältnissen auf den Kopf stellen, an. Ein künstlerischer Gegenentwurf zu den Bestrebungen, die Erde mittels Fotografie exakt zu vermessen.

Der in New York lebende Vorarlberger Mathias Kessler hingegen hat sich in einem Werkblock auf die Spuren der "Flat Earth Society" begeben: einer kruden, sektiererischen Gesellschaft, die in Spuren bis in die 1970er-Jahre in den USA existierte und die die Erde als Scheibe propagierte. Kessler folgte dem Wahlspruch der Gesellschaft - "The end of the world is marked by a wall of ice, which can not be penetrated by mankind" - und organisierte eine Expedition nach Grönland. Er charterte drei Boote und machte sich auf die Suche nach der Mauer aus Eis. Was er fand und fotografierte, waren Eisberge immenser Größe, die er von zwei Booten aus, in Neumondnächten, mit 200.000 Kilowatt-Filmscheinwerfern ausleuchten ließ. Damit generierte er eine ungeheure Tiefenschärfe. Es entstanden gestochen scharfe Bilder, ungeheuer präzise - eine fotografische Vermessung dieser Wände aus Eis. Mathias Kesslers Expedition stürzte natürlich nicht über den Rand der Scheibe. Er kam wohlbehalten, wenn auch mit etwas unterkühlten Fingern, zurück.

Die Erfassung im Cyberspace

In der heutigen Zeit mutet es fast anachronistisch an, sich kalte Finger zu holen, wenn man die Arktis visuell erfassbar machen möchte. Denn es genügt ein guter Bildschirm und eine Internetverbindung und man hat durch Google Earth die Möglichkeit, fast jeden Winkel der Erde zu besuchen. Auf den Millimeter genau vermessen und digitalisiert ist die gesamte Erde bereits. Was davon sichtbar gemacht wird, hängt von politischen und militärischen Überlegungen einzelner Staaten ab. Gibt es in der Erfassbarkeit der Erde von politischer Seite noch eine visuelle Zensur, so scheint es, dass auf privater Ebene viele Hemmschwellen gefallen sind. Manche ohne persönliches Zutun der Menschen, betrachtet man das Projekt Google-Street-View. Digitalkameras auf Autodächern liefern in Echtzeit Bilder und Szenen aus Städten rund um den Erdball. Abseits der dokumentarischen Ebene, natürlich auch ein Eingriff in die Privatsphäre der abgebildeten Menschen. Ein Orwell’sches "1984" auf Google-Basis. Wobei nicht unerwähnt bleiben darf, dass viele Menschen infolge des Hypes rund um Smartphones mit Internetzugang und integrierter Digitalkamera auf einen Teil ihrer Privatsphäre freiwillig verzichten. Die neuen Technologien machen es möglich, dass private Schnappschüsse auf den Meter lokalisiert werden können und damit der Aufenthaltsort der Person erfasst wird. Interessanterweise werden diese Anwendungen freiwilliger Unterwerfung digitaler Beobachtung weltweit von einem Millionenpublikum genutzt. Meist als vermeintlich vorteilhafte Selbstdarstellung jedes Einzelnen. Regelmäßige Verwendung der Facebook-Applikation "Orte" könnte so mancher Detektei die Beschattung treuloser Ehemänner ersparen.

Die Erde im 21. Jahrhundert ist bis auf den letzten Millimeter erfasst, vermessen, abgebildet und digitalisiert. Ein Faktum, das der Menschheit ihre terrestrischen Grenzen schonungslos vor Augen führt. Aber auf der anderen Seite auch Forscherdrang und Fantasie beflügeln könnte.