Deutschlands Ex-Außenminister Hans-Dietrich Genscher ist im Alter von 89 Jahren verstorben.
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Berlin/Wien. Ausgerechnet der bekannteste Satz des Viel- und Gerneredners ist lediglich ein Halbsatz: "Liebe Landsleute, wir sind zu ihnen gekommen, um ihnen mitzuteilen, dass heute ihre Ausreise..." Weiter kam Hans-Dietrich Genscher am 30. September 1989 nicht. Frenetischer Jubel jener 4500 DDR-Bürger, die in der Botschaft der BRD in Prag Zuflucht gesucht hatten, setzte ein und ließ den damaligen Außenminister der Bundesrepublik auf dem Balkon des Palais Lobkowitz verstummen. Die gewährte Ausreise der DDR-Bürger war ein zentraler Impuls beim Fall des "Eisernen Vorhanges" und der nach eigenem Bekunden "glücklichste Augenblick" in der Laufbahn von Hans-Dietrich Genscher.
Es war ein an politischen Höhepunkten reiches Leben, das Genscher führte und das in der Nacht auf Freitag im Alter von 89 Jahren aufgrund eines Herz-Kreislaufversagens zu Ende ging: Unter gleich drei herausragenden Kanzlern - Willy Brandt, Helmut Schmidt (beide SPD) und Helmut Kohl (CDU) - diente er als Minister für den liberalen Koalitionspartner FDP. Ganze 23 Jahre, von 1969 bis 1992, war er Ressortchef, davon 18 Jahre Außenminister. Bis zuletzt meldete sich Genscher zu außen- und europapolitischen Themen zu Wort. "Unsere Zukunft ist Europa, eine andere haben wir nicht", sagte er im November 2015 im "Deutschlandradio Kultur" angesichts der vielfachen Krisen in der EU.
Der gelbe Pullunder und die Reisefreudigkeit wurden zu Genschers Markenzeichen im Auswärtigen Amt. Wiewohl er erst nach dem Rücktritt Brandts 1974 die Außenagenden übernahm, führte er die von Willy Brandt und dessen Vertrauten Egon Bahr konzipierte Ostpolitik der BRD kongenial fort - auch unter Schmidt und, besonders bemerkenswert, unter dem Konservativen Kohl. Denn einst bekämpfte die CDU Brandts propagiertem Wandel im Osten durch Annäherung, wo sie nur konnte. Der "Genschererismus" zwischen Ost und West war in der Hochzeit des Kalten Krieges in der Union nicht unumstritten, und erst recht beim Hauptverbündeten, den USA.
Zugute kamen dem Außenpolitiker Genscher jedoch sein Talent, Kontakte zu knüpfen, und sein Gespür für Menschen: "Es geht darum, sich in die Schuhe des anderen zu stellen. Ihn zu gewinnen, aber nicht zu besiegen", merkte er einmal an. So war es auch Genscher, der drängte, Michail Gorbatschows Worten von Glasnost und Perestroika ernst zu nehmen und diese nicht als Worthülsen der UdSSR abzutun.
Genschers Weitsichtigkeit wurde belohnt, ihm verdankt Deutschland wesentlich den Erfolg bei den "2 plus 4"-Verhandlungen über die Einheit von BRD und DDR mit den vier Siegermächten des Zweiten Weltkrieges, den USA, der Sowjetunion, Großbritannien und Frankreich. 46 Jahre nach Kriegsende erhielt die neue Bundesrepublik 1991 ihre Souveränität zurück. "Außenminister der Einheit" war folglich ein weiterer Spitzname von Hans-Dietrich Genscher.
"Kein Platz für Sie in der DDR"
Die deutsch-deutsche Einheit war Genscher ein biografisches Anliegen. Früh musste der 1927 im heutigen Sachsen-Anhalt Geborene erkennen, dass er in der DDR keine Zukunft haben würde. Denn der Jus-Student war auch Mitglied der Liberaldemokratischen Partei Deutschlands, die als liberale Partei in der sowjetischen Besatzungszone gegründet worden war. "Für Leute wie Sie haben wir in unserem Staat keinen Platz", machte ihm Hilde Benjamin, eine der führenden Juristinnen des selbsternannten Arbeiter- und Bauernstaats, keine Hoffnungen. 1952 verließ Genscher Ostdeutschland. In seiner neuen Heimat BRD dockte er an die FDP an und schaffte 1965 erstmals den Einzug in den Bundestag. 33 Jahre sollte er sein Mandat behalten.
Doch auch unter Hans-Dietrich Genscher blieb die FDP, was sie seit Gründung der Bundesrepublik bis zur Etablierung der Grünen zumeist war: kleiner Mehrheitsbeschaffer von CDU oder SPD. Mehr als 10,6 Prozent bei der Bundestagswahl 1980 waren unter seiner Parteiobmannschaft, die von 1974 bis 1985 dauerte, nicht drinnen. In dieser Zeit zeigte sich auch die Schattenseite von Genschers Geschmeidigkeit: Die FDP vollzog 1982 einen fliegenden Wechsel, aus dem sozialliberalen Bündnis mit der SPD wurde eine Partnerschaft mit Helmut Kohls CDU. Den Kanzler der Einheit, und mit ihm Schwarz-Gelb, wählten die Bürger erst 1998 ab.
Bereits sechs Jahre zuvor zog sich Genscher von der Spitze des Auswärtigen Amts zurück. Er wollte und konnte nicht mehr: Mit der Einheit hatte er sein höchstes Ziel erreicht, zudem kämpfte er mit gesundheitlichen Problemen. Aus dem rheinischen Bonn verschob sich das Zentrum in den jungen Tagen der neuen Bundesrepublik gen Berlin. Genscher selbst blieb zeitlebens ein Bonner: Nicht nur prägte er die Politik der alten BRD wie wenige andere und kein einziger Liberaler. Er wohnte auch bis zu seinem Tode nahe der früheren Hauptstadt.
Im September beziehungsweise November 2015 starben die großen Sozialdemokraten Egon Bahr und Helmut Schmidt. Mit dem Tod von Hans-Dietrich Genscher ist nun auch das letzte hochrangige Symbol der Bonner Republik gegangen.