Jacques Rogge verteilt Lob an die Organisatoren der Spiele, doch sein Blickwinkel ist ein eingeschränkter.
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Auch wenn es noch ein paar Tage dauert, bis die Abschlussfeier einen Strich unter Olympia macht, hat London schon jetzt "sehr gute Spiele" abgeliefert. Das ergab eine Umfrage, durchgeführt von IOC-Präsident Jacques Rogge. Er habe alle Sportarten besucht, überall sei London für die Organisation und die Sportstätten gelobt worden. "Jeder ist sehr glücklich", sagt Rogge.
Nun kann man sich vorstellen, unter welchen Bedingungen diese Umfrage durchgeführt wurde. Hohe Sportfunktionäre besuchen keine Wettkämpfe, sie erscheinen. Und sie werden in der Regel sofort von anderen Funktionären umkreist, die den hierarchischen Regeln gehorchend den Kotau machen, wenn Rogge mitsamt Entourage auftritt. Die präsidiale Umfrage ist daher als nicht wirklich repräsentativ zu klassifizieren, und das Ergebnis wäre ein anderes gewesen, hätte Rogge beispielsweise Mark Worsfold getroffen. Der ehemalige Soldat war als Zuschauer beim Straßenradrennen festgenommen worden, weil er sich aus Sicht der Polizei auffällig verhalten hatte. "Man hat mich mitgenommen, weil ich nicht gelacht habe. Aber ich habe Parkinson", sagte Worsfold. Er wurde zwar rasch entlassen, doch da war Bradley Wiggins bereits Olympiasieger.
Wie Olympische Spiele wahrgenommen werden, hängt eben immer von den persönlichen Erlebnissen ab. Und die sind eben stets sehr unterschiedliche bei Sportlern, ihren Betreuern, bei Funktionären und Zuschauern. Rein sportlich gesehen wird etwa Roger Federer die Spiele in Sydney wohl nicht in besonders guter Erinnerung haben, er verlor im Spiel um Platz drei gegen den Franzosen Arnaud Di Pasquale, der weder davor noch danach besonders in Erscheinung getreten ist. Doch er lernte in Sydney seine spätere Ehefrau kennen, die im Tennis in Runde eins scheiterte.
Was Sportler und Funktionäre bei solch Großanlässen eint, ist die sehr eingeschränkte Sicht auf das Ganze. Rogge und Kollegen wohnen in den besten Hotels, werden auf speziellen Busspuren von einer zur anderen Wettkampfstätte chauffiert, sie sitzen privilegiert und werden hofiert. Die Sportler wiederum sind - im Idealfall - so auf ihren Wettkampf fokussiert, dass sie alles andere ohnehin nicht wahrnehmen. Wenn sie mit ihren Bewerben dann durch sind, herrscht extensive Ausgelassenheit. Dann ist eh fast alles egal, können die Nächte nicht lange genug sein.
Um wirklich eine Erkenntnis zu gewinnen, wie gut oder schlecht die Olympische Spiele waren, muss Jacques Rogge die Zuschauer fragen. In der Regel passiert das auch, und die Studien sind meist sehr positiv für die Veranstalter. Eine große Mehrheit ist stets sehr zufrieden. Das bestätigt dann stets das IOC in seinem Weg, allerdings führt dieser zu immer kurioseren olympischen Momenten, wenn Sportler, die ihre Akkreditierung verlieren, in der S-Bahn schlafen müssen und Zuschauer vorsorglich verhaftet werden, weil sie nicht lachen (können).
Olympia 2012