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Die Geschichte des europäischen Kolonialismus als Sachbuch und als Comic.
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Es ist wenig bekannt, dass im Zweiten Weltkrieg Menschen aus diversen Kolonialländern in Europa gegen den Nationalsozialismus gekämpft haben. Europa, das den Menschen in den Kolonien über Jahrhunderte einbläute, dass es ihnen die Zivilisation bringe, enthüllte ihnen seit Beginn des 20. Jahrhunderts einen barbarischen Anblick dieser vielmals behaupteten Zivilisation. Dass sie zudem plötzlich von der Hilfe der kolonisierten Menschen abhängig waren, denen sie mit Geringschätzung, viel öfter noch mit Gewalt begegneten, vergalten ihnen die Europäer keineswegs mit Dankbarkeit.
Schließlich wurden die Kolonialländer selbst in den Krieg hineingezogen. Als etwa die niederländische Kolonialregierung 1941 die Wehrpflicht für die einheimische Bevölkerung in Niederländisch-Ostindien, im heutigen Indonesien, einführte, um die Japaner abzuwehren, wurden keinerlei Zugeständnisse an die Indonesier gemacht. Doch damit nicht genug: Auch die freiwillige Beteiligung der in den Niederlanden lebenden Indonesier am antideutschen Widerstand war mehr als bemerkenswert und prozentuell um ein Vielfaches höher als jene der niederländischen Bevölkerung.

"Die Niederlande haben vergessen, welche Risiken die indonesischen Mitglieder des Widerstands eingegangen sind, welchen Gefahren sie sich in einem Land ausgesetzt haben, das nicht ihres war und das noch dazu ihr Heimatland seit Jahrhunderten besetzt hielt." Das schreibt der belgische Historiker David Van Reybrouck, der bereits mit "Kongo - Eine Geschichte" (2012) ein atemberaubendes Werk über das zentralafrikanische Land und seine Menschen verfasst hat. Nun legt er mit "Revolusi - Indonesien und die Entstehung der modernen Welt" eine fesselnde, durch dutzende Zeitzeugenstimmen erhellende Geschichte der niederländischen Kolonisierung sowie der Entkolonisierung Indonesiens vor.
Im Herbst 1946 fährt ein Schiff nach Niederländisch-Ostindien. An Deck sind Freiwillige, die seit Ende des Zweiten Weltkriegs in großer Zahl aus den Niederlanden verschifft werden, um die alte Kolonie, die zwischen 1942 und Kriegsende von Japan besetzt wurde, wieder unter niederländische Kontrolle zu bringen. Auf ihrer Reise wird ihnen kolonialistische Propaganda eingepeitscht: "Dreihundert Jahre! ... Dreihundert Jahre haben wir uns abgerackert und geschunden, dreihundert Jahre haben wir die Blüte unseres Volkes und unseres Blutes hingegeben ..." / "...um aus diesem Inselreich ein Paradies zu machen. Und das nicht aus Eigennutz, nein . . ." / ". . . sondern um der Bevölkerung der Insulinde die westliche Zivilisation zu bringen."
Unter den Freiwilligen in Peter van Dongens grafischem Roman "Rampokan" findet sich Johan Knevel, Sohn niederländischer Eltern, aufgewachsen auf Celebes, heute Sulawesi. Vor dem Krieg ist er zu Studienzwecken in die Niederlande gereist und von dort nicht mehr losgekommen. Im Unterschied zu den meisten anderen ist für ihn die Reise eine ersehnte Rückkehr. Doch wohin genau?

Seine Mutter war früh an Typhus, sein Vater im Krieg verstorben, und weitere Verwandte gibt es auf den Inseln nicht. Da wäre noch Babu Ninih, Johans einstige Kinderfrau, von der er alles gelernt hat. Sie hat ihn an ihrem Körper getragen, im Tragetuch. Sie schenkte ihm Geborgenheit und Neugier. Doch wird er sie finden?
Und da ist noch etwas: Johan Knevel hat Blut an den Händen. An Deck ist es zu einem Streit gekommen, ein Mann ging über Bord. Nun ist Knevel im Besitz der Papiere von Erik Verhagen, den er als Kommunisten verdächtigt hatte, der nicht für die Interessen der Niederländer kämpfen würde. Überraschend stellt er fest, dass Verhagen auf Java geboren wurde. In dessen Briefen entdeckt er eine tiefe Liebe zu Indonesien, aber auch eine ebenso tiefe Ablehnung der niederländischen Absichten.
Bei seiner Ankunft ist Knevel voller kolonialistischem Schwung: "Man muss den Asiaten einfach zeigen, wer hier der Chef ist, dann gibt’s auch keine Probleme mehr..." Allmählich jedoch bemerkt er, dass die niederländischen Vorgesetzten und Kameraden von diesem Land keine Ahnung haben. In deren Verhaltensweisen spiegelt sich verzerrt sein eigenes Benehmen nach Art der Kolonialherren. Die Grobheit des Majors, der sich eine Einheimische wie Johans Babu als Frau genommen hat, erfüllt Knevel mit Entsetzen. In kleinen Schritten beginnt eine Annäherung an den kommunistischen Deserteur: "Ich glaube, dass Verhagen mich verstanden hätte. Obwohl er ein Verräter war."
Van Dongens "Rampokan", ursprünglich in zwei Folgen 1998 und 2004 (deutsch 2008/2009) erschienen, ist nun, durchgehend koloriert, neu herausgebracht worden. Die sieben Jahre Zeit, die sich der niederländische Autor allein für den ersten Band ("Java") genommen hatte - für den zweiten ("Celebes") kommen noch sechs weitere dazu -, kann man auf jeder Seite spüren. Stimmungsvoll und mit Akribie lässt der Zeichner ein Land in vielen Facetten nostalgischer Erinnerung auferstehen, das es in dieser Form nicht mehr gibt.
Doch auch das Ausmaß der Gewalt, die sich hier zugetragen hat, können die Leser erahnen. Bereits auf den ersten Seiten jagen indonesische Unabhängigkeitskämpfer, von den Niederländern abfällig als Rampokker, Plünderer und Verräter, bezeichnet, Militärfahrzeuge, aber auch Zivilisten in die Luft. Die geballte Wut, die sich in diesen Jahren auf Seiten vieler Indonesier gegen eine Wiederherstellung der alten Kolonialordnung entlädt, hat sich seit langem aufgestaut.
Ende mit Fiasko
Bei David Van Reybrouck ist die komplexe Vorgeschichte anschaulich geschildert. Am 17. August 1945, einen Tag nach der faktischen Kapitulation Japans, erklärt Indonesien die Unabhängigkeit, Ende August tritt die erste Regierung der Republik unter Sukarno zusammen. Als dagegen im Herbst die britischen Alliierten - und in ihrem Schlepptau auch niederländische Soldaten - mit dem Auftrag, die japanischen Streitkräfte zu entwaffnen und die Menschen in den japanischen Lagern zu befreien, in Indonesien landen, kommt es zu Unmut unter den Verfechtern der Unabhängigkeit, es folgen Aufruhr und Gewalt.
Unter dem Schlachtruf "Ber- siap!" ("Seid bereit!") begann der erste Entkolonisierungskrieg. Während die Niederländer noch immer an einer Rückgewinnung ihrer Kolonialherrschaft festhielten, verstanden die britischen Vertreter, dass dieser Zug abgefahren war. Nach einem Jahr langwieriger Verhandlungen kommt es am 15. November 1946 zu dem bemerkenswert besonnenen Abkommen von Linggajati. "Hier hätte unsere Geschichte enden können", so Reybrouck: "Es endete mit einem ungeheuren Fiasko."
Das Parlament in Den Haag begann, das Abkommen mit zusätzlichen Forderungen zu überfrachten, daran "herum[zu]pfuschen", wie der niederländische Unterhändler Willem Schermerhorn es ausdrückte. Es folgten drei weitere Jahre mit schlimmsten Gewaltexzessen. Was in der niederländischen Geschichtsschreibung bis in die Gegenwart beschönigend und geschichtsfälschend als "Polizeiaktionen" bezeichnet wurde, waren militärische Offensiven, bei denen gefoltert und gemordet wurde. Im Rahmen barbarischer Säuberungen wurden ganze Dörfer niedergebrannt. Schuldige wurden niemals zur Verantwortung gezogen.
Auf diesem Hintergrund spielt van Dongens Comic. Die Facetten der Wirklichkeit sind vielfältig. Indessen gelingt es dem Zeichner, genau diese Komplexität einzufangen. Nicht nur weil sein Protagonist Knevel regelrecht eine Verwandlung durchlebt, nachdem er von einer Widerstandsgruppe als kommunistischer Deserteur Erik Verhagen "identifiziert" wird und sich in ihre Aktivitäten einbinden lässt. Schließlich unterlegt van Dongen den historischen Ereignissen die rituelle Geschichte des Rampokans. Bei diesem Wettkampf werden hungrige Tiger in eine Arena entlassen, die von speertragenden Kämpfern umringt ist. Sollte ein Raubtier diesen Kampf gewinnen und entkommen, so verspricht das Unheil. Das Ritual durchzieht den grafischen Roman als Allegorie der Gewalt, die ein breites Spektrum aufweist und einer entfesselten Dialektik folgt: "Der Tiger ist los!" Immer wieder taucht der "Gestreifte", scheinbar unvermittelt, auf, hinter Bambusdickicht blinzelt ein Auge hervor. Knevel kennt die Geschichte von seiner Babu. Van Dongen wiederum kennt sie vermutlich aus dem Erzählschatz seiner indonesischen Mutter, die in den 1950er Jahren mit ihrer Mutter in die Niederlande gelangt ist.
Die kunstvolle Verflechtung unterschiedlicher Bezugsfäden betreibt der Zeichner bis in kleinste Details. Die vielfachen Spiegelungen etwa im Auge eines Silberreihers sind dabei ästhetische Mittel der Entschleunigung, die zur Reflexion anhalten. Van Dongen geht noch einen Schritt weiter und hinterfragt das Medium selbst. Zum einen unterläuft er die Erwartungshaltung, die mit Hergés Ligne claire verknüpft ist und leichte Kost zu versprechen scheint, zum anderen zitiert er auch dessen gezeichnetes koloniales Abenteuer "Tim im Kongo" (1930/1931).
Koloniale Klischees
Hergés erster Comic der Reihe "Tim und Struppi", ist ein Bilderlexikon europäischer kolonialer Klischees und rassistischer Stereotype. Neben van Dongen hat sich auch der südafrikanische Comic-Künstler Anton Kannemeyer mit Hergés kolonialem Vermächtnis auseinandergesetzt. Während Kannemeyer in ebenso sarkastischen wie schockierenden Strips Hergés Kongo-Comic mit den Verbrechen der belgischen Kolonialmacht unter König Leopold II. rekontextualisiert, hat van Dongen eine komplexe Darstellung kolonialer Ereignisse in grafischer Erzählform geschaffen.
Wie sehr es sich dabei um eine universelle Geschichte handelt, sei dabei mit Nachdruck hervorgehoben. Die "nationale Fokussierung" allerdings, in diesem Fall auf die Niederlande, das hebt auch Van Reybrouck hervor, wäre endlich zu überwinden, um dem Analphabetismus in Sachen Kolonialgeschichte entgegenzuwirken: Der Kolonialismus ist ein durch und durch europäisches Phänomen.
David Van Reybrouck
Revolusi
Indonesien und die Entstehung der modernen Welt. Aus dem Niederländischen von Andreas Ecke. Suhrkamp, Berlin 2022, 751 Seiten, 35.- Euro.
Peter van Dongen
Rampokan
Gesamtausgabe. Kolorierung von Marloes Dekkers und Peter van Dongen. Aus dem Niederländischen von Jan Kruse. avant-verlag, Berlin 2023, 176 Seiten, 39.- Euro.
Martin Reiterer, geboren 1966, Germanist und Kulturpublizist, befasst sich speziell mit dem Medium Comic.