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183 Abgeordnete zum Nationalrat werden angelobt. Aber interessiert Jugendliche heute noch, was diese tun?
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Der Nationalrat konstituiert sich am 23. Oktober. Die 183 Abgeordneten, die in die XXVII. Gesetzgebungsperiode starten, darunter auch Philippa Strache als "wilde" Abgeordnete, werden "unverbrüchliche Treue der Republik, stete und volle Beobachtung der Verfassungsgesetze und aller anderen Gesetze und gewissenhafte Erfüllung ihrer Pflichten" geloben.
Ihre erste Aufgabe ist es, das neue Nationalratspräsidium zu wählen, die ÖVP hat Wolfgang Sobotka, die SPÖ Doris Bures, die FPÖ Norbert Hofer dafür vorgeschlagen. Eva Blimlinger von den Grünen tritt, obwohl diese viertstärkste Kraft im Hohen Haus sind, als Gegenkandidatin zu Hofer an. Bei dieser Wahl reicht eine einfache Mehrheit. Schulklassen werden an diesem Tag keine zuhören - mangels Platz am Balkon des Plenarsaals, nicht mangels Interesse. Aber wie ist es überhaupt um das Interesse Jugendlicher am Nationalrat bestellt?
"Wiener Zeitung":Interessieren sich junge Menschen für Politik?Philipp Mittnik: Dazu gibt es leider keine validen Zahlen, sondern gefühlte Empirie: Wir wissen, dass das Interesse an Politik gerade in Vorwahlzeiten sehr groß ist. Da gibt es auch immer wieder den Wunsch, in der Schule über Politik zu reden. Gesichert ist, dass manche Lehrerinnen und Lehrer diesem Wunsch aber nicht nachkommen, sondern politische Bildung in manchen Schulen nur einen sehr geringen Stellenwert hat. Wir wissen auch, dass die Geschichte von der Politikverdrossenheit junger Leute ein Märchen ist, sondern dass man eher von Parteienverdrossenheit sprechen müsste. Denn politische Bewegungen wie "FridaysforFuture" und Aktivistinnen wie Greta Thunberg kommen gut an.
Was aber ist mit dem Parlament - kommt das an?
Dieser sehr formale Zugang in den Schulen, wie ein Gesetz entsteht, wie das Parlament zusammengesetzt ist, wie Parteien strukturiert sind, das ist etwas, was Schülerinnen und Schüler oft nur mäßig interessiert. Wenn man aber zum Beispiel Parteiprogramme vergleicht, wie Parteien zu Themen wie Migration, Vermögenssteuern oder Klimaschutz stehen, das interessiert sie sehr. In einer Berufsschule war es zum Beispiel das Ausländerwahlrecht, die Erkenntnis, dass sie mit Migrationshintergrund nicht mitbestimmen dürfen. Da haben viele gesagt: "Das ist für uns wirklich das größte Problem."
Was hat das zur Folge, die Ablehnung der Demokratie?
Generell gibt es 23 Prozent, die sich einen starken Mann wünschen, fast ein Viertel hat also ein Demokratieproblem. Beim Vergleich von Berufs- und AHS-Schülern wird die ethnische Komponente stark überschätzt. Es zeigt sich vielmehr, dass sozial schwächergestellte Schülerinnen und Schüler aus bildungsferneren Haushalten in Berufsschulen weniger an die Demokratie glauben als solche in der AHS. Das ist also eher ein Demokratieglaubwürdigkeitsproblem.
Warum aber ist das Interesse an demokratischen Prozessen im Parlament bei jenen, die es sich eben nicht privat richten können, nicht größer?
Wir wissen aus einer europäischen Vergleichsstudie, dass es für jene, die um 1970 geboren wurden, viel wichtiger ist, dass sie in einer Demokratie leben, als für jene, die 2000 geboren wurden. Hier zeigt sich, dass man offenbar weder in der Schule noch im Privaten lernt, was Demokratie ausmacht und welche Rolle die Träger der Demokratie, also der Nationalrat zum Beispiel, dabei spielen.
Können Sie das erklären, bitte.
Die Kurzfassung: In einer Demokratie spielen die Interessen der Mehrheit eine große Rolle, da gibt es natürlich auch Verlierer. Es gibt Entscheidungen im Nationalrat, die demokratisch legitimiert sind, weil dieser gewählt wurde, mit denen man leben muss, auch wenn ich selbst eine andere Meinung habe. Deshalb ist es wichtig, Schülerinnen und Schüler zu befähigen, sich politische Urteile zu bilden, Argumente vorzubringen, den eigenen Standpunkt zu vermitteln und zu diskutieren. Es ist schon abenteuerlich, wenn Politik gut oder schlecht bewertet wird, je nachdem, ob sie weniger oder mehr streitet. Es ist ein Wesensmerkmal einer Demokratie und eines funktionierenden Parlamentarismus, dass politische Konflikte auftreten. Dramatisch ist es dann, wenn es keine gibt, denn das gibt es de facto nur in Diktaturen.
Warum sollen sich diese "Verlierer" Politik überhaupt antun?
Nein, so ist das nicht gemeint. Es soll eher zeigen, dass Jammern nichts hilft, wenn ich mit einer Politik nicht einverstanden bin. Wenn ich zum Beispiel die FPÖ als rechtsextreme Partei ablehne, muss ich mich selbst politisch engagieren, um etwas zu bewegen. Da sehen wir aber, dass politische Parteien für junge Leute immer uninteressanter werden im Vergleich zu sozialen oder Umweltschutz-NGOs. Diese erleben einen Zustrom an jungen Leuten, die ehrenamtlich arbeiten wollen, genauso wie zivilgesellschaftliche Aktionen wie "FridaysforFuture". Das ist aber für eine parlamentarische Demokratie gefährlich. Wenn alle sich außerparlamentarisch oder außerhalb von Parteien engagieren, bricht eine Stütze des Parlamentarismus weg.
Was also tun? Die jungen Leute ins Parlament einladen?
Grundsätzlich gilt es, an den Lebenswelten junger Menschen anzuschließen. Da reicht es nicht, einmal durchs Parlament zu gehen und im Plenarsaal zuzuhören. Denn das ist eher eine Show. Man sieht nicht, dass die Parlamentsarbeit in Ausschüssen stattfindet; auch nicht, dass Politikerinnen und Politiker nicht einfach so wie im eigenen Umfeld sagen können: "Ich mag dich nicht, also rede ich nicht mit dir", sondern professionell miteinander kommunizieren müssen, auch wenn sie politisch was gänzlich anderes vertreten. Man sieht auch nicht, dass mehr als zwei Drittel der Gesetze einstimmig verabschiedet werden. Parteien müssten versuchen, die Jugend über neue Trägerorganisation zu gewinnen, in denen ihnen nicht nur die Inhalte der Partei vorgekaut werden, sondern wo sie partizipativ mitgestalten können. Es ist auch wichtig, Jugendlichen näherzubringen, dass es zwar sinnvoll ist, sich in NGOs einzusetzen, man damit aber kein Gesetz ändert. Dazu muss man den Kontakt zu Parteien suchen.
Der Kontakt der Parteien zu jungen Menschen hat sich weg von Parteiveranstaltungen hin zu sogenannten Sozialen Medien entwickelt. Kommt Parteipolitik bei jungen Menschen überhaupt an?
Diese Plattformen sind für eine Demokratie sehr, sehr schwierig. Einerseits können Parteien und einzelne Politikerinnen und Politiker einen höheren Zuspruch gewinnen, andererseits gibt es auch mehr Möglichkeiten zur Manipulation. Die Freiheitlichen haben im Wahlkampf zum Beispiel ganz geschickt vor YouTube-Videos, die bei Jugendlichen populär sind, Werbung geschaltet. So etwas hat massiven Einfluss auf junge Menschen. Und andererseits kommen politische Erklärungen zu Themen wie Bildung oder Gesundheit in den sogenannten sozialen Medien kaum vor, obwohl sie von größerem Interesse für die Jugendlichen sind. Daher wäre es wichtig, die Medienkompetenz der Jugend zu steigern, damit sie mit Manipulationsversuchen umzugehen lernen.
Stinkt das Abgeordneten-Video nicht gegen professionelle YouTuber ab?
Im deutschen Wahlkampf hatten YouTuber extremen Einfluss auf das Wahlverhalten junger Leute, das halte ich für eine negative Entwicklung in einer Demokratie. Aber dieses Phänomen ist vorhanden, man kann und soll auch niemandem verbieten, sich politisch zu äußern. Man kann dem aber andere Videos entgegensetzen. Die politische Rechte macht vor, dass man das auch nicht peinlich machen kann, da können sich andere Parteien schon etwas abschauen. Und es geht auch nicht um lange Monologe, sondern kurze Erklärungen von politischen Zusammenhängen, warum mir was wichtig ist oder warum ich wofür gestimmt habe. Das spricht politisch Interessierte schon an. Man sollte eben nicht versuchen, auf jung zu machen, oder in eine Art Pseudojugendsprache verfallen und als 50-Jähriger "Jo Brudi, was ist los?" sagen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es in Volksparteien, die die ÖVP oder SPÖ ja immer noch sind, niemanden gibt, der das nicht kann.
Braucht es jüngere Abgeordnete?
Da gehen die Meinungen auseinander. Die einen sagen, es braucht Role Models. Bernie Sanders ist mit 78 Jahren ein steinalter Mann, der aber bei jungen Menschen in den USA gut ankommt - wegen seiner Werte, die dem Zeitgeist entsprechen. Ich denke, das spielt eine größere Rolle als das Alter.
Was sollten die Abgeordneten selbst tun, um das Interesse am Parlament zu steigern?
Sie sollten sich mit Jugendendlichen auseinandersetzen. Nationalratsabgeordnete verschiedener Parteien könnten Schulklassen zu jeweils einem Thema zu einer Art Debattierklub einladen, damit diese sehen, wer wofür steht. Außerdem: Abgeordnete haben eine Auskunftspflicht, sie müssen einen treffen, nicht gleich morgen oder übermorgen, aber verweigern dürfen sie sich auch nicht. Wenn man bewusst über ein Thema diskutiert, es nicht immer mit anderen vermischt, könnte das das politische Bewusstsein junger Menschen deutlich schärfen.