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Der Philosoph Rudolf Burger über die Flüchtlingskrise, seine Kritik an der "Zivilgesellschaft" und die Gefährlichkeit der Menschen.
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Wien. "Dieses Land ist ungeheuer leicht hysterisierbar, das kann in die eine oder andere Richtung kippen." Zu diesem Schluss kommt der Wiener Philosoph Rudolf Burger. Die "Wiener Zeitung" sprach mit ihm über seine Sicht der aktuellen Flüchtlingskrise, ihre möglichen langfristigen Folgen und warum es durchaus angebracht sei, mit einer gesunden Portion Misstrauen durchs Leben zu gehen.
"Wiener Zeitung": Hunderttausende Flüchtlinge strömen aus umliegenden Krisenregionen nach Europa. Unsere Welt ist plötzlich aus den Fugen. Was geschieht gerade?
Rudolf Burger: Um die aktuelle Situation einzuordnen, empfehle ich, zwei ältere Bücher noch einmal zur Hand zu nehmen: Das eine hat der griechische Philosoph Panajotis Kondylis 1992 geschrieben, es heißt "Planetarische Politik nach dem Kalten Krieg". Darin hat Kondylis nicht die aktuellen Flüchtlingsströme vorausgesagt, aber doch die grundsätzliche Massenmigration unserer Zeit prognostiziert. Das Buch liest sich, als wenn es heute geschrieben worden wäre. Das zweite Buch, das ich jetzt erneut gelesen habe, um den Syrienkonflikt für mich einzuordnen, hat 1962 der britische Historiker Hugh Thomas geschrieben und heißt "Der Spanische Bürgerkrieg". Es gibt, trotz aller Unterschiede, erstaunliche Parallelen zwischen der Lage in Nahost und dem Spanischen Bürgerkrieg von 1936 bis 1939.
Was haben die Kämpfe zwischen Republikanern und Faschisten im Europa der Zwischenkriegszeit und den islamistischen Terroristen, die alte Ordnung in Nahost über den Haufen werfen, gemeinsam?
Was mich umtreibt - und es geht mir dabei nicht um eine moralische Provokation -, ist folgende Frage: Warum kommen die hunderttausenden jungen Männer zu uns? Warum bleiben sie nicht und verteidigen ihre Heimat? Ich stelle diese Frage ganz naiv, zumal es an Waffen in der Region eher nicht mangelt und die Zahl der Kämpfer des Islamischen Staats überschaubar ist.
Worin besteht der Zusammenhang mit dem Spanischen Bürgerkrieg?
Madrid wurde von den Faschisten drei Jahre belagert, die Front verlief mitten durch das Universitätsviertel. Die Madrilenen sind zum Teil unbewaffnet an die Front gegangen, in der Erwartung, dass sie bei einem der Gefallenen schon eine Waffe finden würden. La Pasionaria, eine Ikone der Linken, hat die Frauen aufgerufen, ihre Häuser mit siedendem Öl zu verteidigen. Die Regierung wollte Madrid evakuieren, doch die Leute sind nicht gegangen. Deshalb frage ich mich: Warum bleiben die jungen Männer nicht in Syrien und kämpfen? In Spanien hat die große Fluchtbewegung erst nach dem Fall von Barcelona im Frühjahr 1939 eingesetzt.
Vielleicht weil sie das Gefühl haben, von ihrem Land sei nach Jahrzehnten der Diktatur und nun Jahren des Bürgerkriegs nichts mehr übrig, für das sich zu kämpfen und zu sterben lohnt.
Es ist immerhin ihr Land. Was Syrien mit Spanien gemeinsam hat, ist: Beide Konflikte sind hochgradig von externen Interventionen bestimmt. In Syrien sind es Russland, Iran, Türkei, Washington, Saudi-Arabien, in Spanien waren es Deutschland, Italien, die Sowjetunion und die internationalen Brigaden; und die republikanische Seite war ebenso ideologisch zerstritten, wie die syrische Opposition heute. Ich erwähne das nur, um den Konflikt in Syrien irgendwie einordnen zu können. Dass es jedoch zu diesen Migrationsströmen kommen wird, das hat Kondylis schon vor 25 Jahren vorhergesehen. Dass sie jetzt so plötzlich und massiv aufgetreten sind, konnte niemand wissen.
Entschuldigt das die Hilflosigkeit, mit der die Politik auf diese rasante Entwicklung reagiert?
Es heißt immer, das Erste was in einer Krise auf der Strecke bleibe, sei die Wahrheit. Bei uns ist es nicht die Wahrheit, sondern die aristotelische Logik. Die Bilder, die wir aus Ungarn sehen, sind furchtbar. Aber es bleibt ein Widerspruch, den ungarischen Premier Orban zu beschimpfen und im nächsten Atemzug von diesem zu verlangen, er solle die Außengrenzen schützen. Wie soll das gehen?
Wie soll sich also eine Gesellschaft verhalten, die mit Flüchtlingsströmen neuer Dimensionen konfrontiert ist?
Abstrakt lässt sich das nicht beantworten, man muss es auf konkrete Situationen herunterbrechen. Und dann gilt, was Clausewitz den "Takt des Urteils" genannt hat. Grundsätzlich ist zu sagen: Es gibt das Recht auf Asyl und ein Recht auf Selbstbehauptung. Und Politiker sind auf das Wohl ihres Landes vereidigt. Das mag in vielen Ohren zynisch klingen, ist aber unsere gültige Rechtsordnung.
Sie haben die Mitverantwortung des Westens für das Chaos in Nahost angesprochen: Ergibt sich daraus die Pflicht, nun wieder für Stabilität zu sorgen?
Die Destabilisierung durch den Westen stand am Anfang. Ich erinnere daran, wie mit Bernhard- Henri Lévy einer der französischen Starintellektuellen 2011 zum Sturz des libyschen Diktators Gaddafi aufgerufen hat. Dabei stand dessen Zelt kurz davor noch im Élysée-Palast aufgeschlagen. Jetzt sind Afrikas Grenzen nach Norden, nach Europa offen. Die Folgen dieser Entwicklung sind schwer abzuschätzen; ich vermute, dass in den nächsten Jahren in Europa auch politisch kein Stein auf dem anderen bleiben wird. Überall befinden sich rechtspopulistische Parteien auf dem Vormarsch, das wird große Schwierigkeiten machen.
Es gibt auch eine Gegenbewegung, nicht nur von Linkspopulisten, sondern auch von Zentrumspolitikern wie Angela Merkel in Deutschland.
Ich sage nicht, dass es zu flächendeckenden Machtwechseln kommen wird, sehr wohl aber zu großen Konflikten innerhalb Europas. Die Polarisierung wird sich verschärfen. Wir haben im Westen vor dreißig Jahren eine intensive Debatte über Moderne versus Postmoderne geführt. Im Wesentlichen war das eine ästhetische Diskussion, die auch in die Gesellschaftstheorie ausgestrahlt hat. Heute bin ich allerdings überzeugt, dass wir diese Debatte trotz ihrer Vehemenz noch immer nicht radikal genug geführt haben. Was wir heute erleben, ist nicht das Ende der Moderne, sondern das Ende der europäischen Neuzeit. Ich weiß, das ist kein ganz origineller Gedankengang, aber eben meine Befürchtung.
Was hat diese Neuzeit aus Ihrer Sicht geprägt, und was droht uns künftig abhanden zu kommen?
Beginnend mit der Spätrenaissance, der Reformation, der Europäisierung fast der gesamten restlichen Welt entfaltete sich mittels Aufklärung und Industrialisierung eine ungeheure Dynamik. Europa wurde so zum Zentrum der Welt. Das ist jetzt vorbei. Vielleicht war das schon im Verlauf des Kalten Krieges der Fall, aber damals war Europa wenigstens noch das Zentrum der Konfrontation. Jetzt ist es mit Sicherheit vorbei. "Das Empire ist eine Magenfrage", hat der britische Politiker Cecil Rhodes einmal gesagt, "wenn Sie den Bürgerkrieg nicht wollen, müssen Sie Imperialist werden." Damals, im 19. Jahrhundert, musste Europa Menschen exportieren, heute hat sich das umgedreht, heute kommen die Menschen in Massen zu uns. Wir erleben das Ende des bürgerlich-liberalen Zeitalters, wie wir es bis jetzt gekannt und definiert haben. Damit meine ich: Unsere Zeit lässt sich aufgrund der wirtschaftlichen und technologischen Entwicklung nicht mehr mit den aus dem 19. Jahrhundert stammenden politischen Begriffen fassen. Liberalismus, Sozialismus, Konservativismus: Sie greifen als Kategorien nicht mehr in einer hochindustrialisierten und globalen Massengesellschaft.
Ist das aus Ihrer Sicht ein Verlust? Oder könnte nicht auch etwas Neues, womöglich Besseres am Horizont aufscheinen?
Als Europäer finde ich das natürlich bedauerlich, aber zunächst geht es mir nur darum, die Lage zu erfassen. Und was sollte ich auch tun, ich bin ein alter Mann.
Kann Europa, soll Europa überhaupt versuchen, dagegen zu arbeiten? Zäune errichten, Grenzen dichtmachen: Lässt sich mit solchen Mitteln eine historische Entwicklung aufhalten.
Völlig nutzlos sind Zäune nicht, immerhin wurden die ganze Geschichte hindurch Mauern aufgebaut. Ob sie das Problem lösen könnten, weiß ich nicht. Es ist aber das eine, die Unausweichlichkeit einer Entwicklung anzuerkennen, und etwas anderes, diese politisch und argumentativ zu unterstützen.
Für manche steht der Bau neuer Mauern in Europa im Widerspruch zu europäischen Werten.
Verzeihen Sie, aber das ist eine Idyllisierung europäischer Geschichte, die an Kitsch grenzt. Gerade die liberale Epoche hat vielleicht keine Grenzen gezogen, aber Grenzen überschritten, und zwar aggressiv und in genau jene Räume, aus denen jetzt die Menschen zu uns kommen. Die Hochblüte des Liberalismus fällt mit dem Imperialismus zusammen.
Etliche Liberale, an ihrer Spitze der "Economist", empfehlen statt Zäunen offene Wirtschaftsräume und begrüßen aus kapitalistischen Motiven die Zuwanderung: Ein alterndes Europa brauche neue, junge Arbeitskräfte zur Finanzierung seines Wohlfahrtsstaates.
Ja, das ist ein Argument. Aber leicht wird es nicht, weil die momentane Zuwanderung nicht das Ergebnis einer gewollten und geplanten Migration ist, sondern spontan und ungeordnet abläuft.
Die tausenden Freiwilligen, die als Zivilgesellschaft an Bahnhöfen und Grenzübergängen Flüchtlingen helfen, sind kein Zeichen für eine womöglich bessere Zukunft?
Ich bewundere das und finde es ungeheuer sympathisch. Ein Problem habe ich aber mit dem Hochjubeln einer angeblichen Zivilgesellschaft. Diesen Begriff gibt es in der klassischen Soziologie überhaupt nicht; Antonio Gramsci hat ihn vielleicht für den Kommunismus verwendet, aber das war ein Nischenphänomen. In breiteren Gebrauch kam er erst mit Bezug auf die Dissidenten in Mittel- und Osteuropa. Heute ist der Begriff so ausgeleiert, dass er in Wirklichkeit mit dem der Gesellschaft zusammenfällt. Diejenigen, die am 15. März 1938 am Heldenplatz gejubelt haben, waren auch die Zivilgesellschaft, und die diversen Dschihadisten-Organisationen sind es par excellence. Dieses Land ist ungeheuer leicht hysterisierbar, das kann in die eine wie die andere Richtung kippen.
Was bedeutet diese extremen Stimmungsschwankungen für die etablierte Politik, für die Debatte?
Es wird ein Lehrstück werden für den Satz Max Webers, wonach Politik ein Kampf mit Dämonen ist. Durchaus möglich, dass es wieder gefährlich wird. Es gibt tatsächlich so etwas wie die furchtbare Ursprünglichkeit von Tatsachen, Stimmungen können extrem schnell ins Kippen geraten. Das sollten wir besser nicht vergessen.
Politik dagegen hat fast die Pflicht, Optimismus zu verströmen.
Nein, nicht immer. Es gibt zwei Reden, die mich beeindruckt haben: Winston Churchill 1940 mit seiner "Blut, Mühsal, Tränen und Schweiß"-Ansprache und Leopold Figl mit seiner Rede zu Weihnachten 1945. Heute wissen die Jungen nicht einmal mehr, was es bedeutet, "kein Glas zum Einschneiden" mehr zu haben, sind alle Reden von Politiker auf Optimismus gefärbt.
Vielleicht deshalb, weil sich die Politik vor dem Tier im Menschen fürchtet.
Ja, und das mit Recht.
Dann hat die von Ihnen betrauerte europäische Neuzeit ohnehin nicht viel erreicht. In Österreich haben die Eliten auch nach 70 Jahren Zweiter Republik noch immer kein Grundvertrauen in die Masse der Bevölkerung, wie der soeben abgesagte Ausbau der direkten Demokratie belegt.
Es gibt ein berechtigtes Misstrauen des Volkes vor sich selber. Und weil ich dieses Misstrauen teile, bin ich grundsätzlich ein Anhänger der repräsentativen Demokratie. Die ist eindeutig ein Kennzeichen des Liberalismus, das vom rechten wie vom linken politischen Extremismus bekämpft wurde. Dass diese Errungenschaft erodiert, ist eine andere Sache. Das Ideal des Parlaments als Ort, an dem durch offene Diskussionen die bestmöglichen Entscheidungen für den Staat getroffen werden, ist nirgendwo verwirklicht. Heute sind die Debatten nur noch Fassade, alles ist bereits vorher entschieden, doch ich würde diese Fassade ganz gern noch eine Weile aufrechterhalten.
Dass die Zivilisierung des Menschen nicht gelungen ist, irritiert Sie gar nicht?
Der Kern unserer Demokratie besteht für mich nicht in Mitbestimmung, sondern in Machtkontrolle. Der Staat hat zwei Szenarien zu verhindern: Skylla Bürgerkrieg und Charybdis Diktatur. Und es gibt es keine endgültige Lösung, dann wäre die Geschichte zu Ende. Angesichts dessen halte ich die repräsentative Demokratie für das geeignetste Mittel. Über die Quantitäten und mögliche direktdemokratische Ergänzungen kann man diskutieren, nicht, weil ich in jedem einen potenziellen Faschisten erkenne, das ist billig. Es geht um die grundsätzliche Aufgabe staatlicher Ordnung. Wir sind nicht gut und sind nicht böse. Alles, was wir moralisch denken können, ist möglich. Menschen sind gefährlich. Alle. Sie können sich aufopfernd um Flüchtlinge kümmern wie zu Bestien werden. Und es ist von niemandem ex ante abschätzbar, wie er sich in einer bestimmten Lage verhalten wird.
Zur Person
Rudolf Burger,
geboren 1938, gilt als einer der renommiertesten Philosophen Österreichs. Er studierte technische Physik in Wien und lehrte Philosophie an der Universität für Angewandte Kunst in Wien, deren Rektor er auch war. Burger hat sich immer wieder mit pointierten Stellungnahmen in aktuelle politische und weltanschauliche Debatten eingemischt. Zuletzt sind erschienen "Das Elend des Kulturalismus. Antihumanistische Betrachtungen" sowie "Der Triumph des Liberalismus. Ein Nachruf", beide 2011.