Erika Mitterers Roman "Der Fürst der Welt" nutzte 1940 den Mythos und den magischen Realismus als literarische Methode des geistigen Widerstands und täuschte damit die NS-Zensur.
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Erika Mitterers Roman "Der Fürst der Welt", 1940 erschienen, zählt zu den bedeutendsten Werken der "Inneren Emigration". Er ist gattungsmäßig als historischer Roman zu bezeichnen, doch sind sein zeitgeschichtlicher Bezug und seine bis heute ungebrochene Aktualität von besonderer Bedeutung.
Es wurde bereits mehrmals darauf hingewiesen, dass sich dieses Werk der "verdeckten Schreibweise" unter Anwendung gewisser "rhetorischer Strategien" bediente, um getarnte Kritik an den Zuständen der Gegenwart üben zu können. Es ist bekannt, dass Erika Mitterer, die 1933, als Hitler an die Macht kam, erst 27 Jahre alt war, dem Nationalsozialismus oppositionell gegenüberstand; allerdings waren für ihre systemkritischen Schriften Verschlüsselungen erforderlich, um die Instanzen der Macht zu täuschen und dennoch Signale an die Leser auszusenden.
Äußerer Rahmen des Romans sind der Lebenslauf der zwei Geschwister Hiltrud und Theres vom Ried, ihre vielseitigen Verstrickungen und ihre Begegnung mit zahlreichen Personen, die ihr Leben beeinflussen. Schauplatz der Handlung ist eine namenlose deutsche Stadt.
Themen und Motive
Die Erzählung enthält viele Dialoge, sodass man als Leser den Eindruck gewinnt, Zeuge eines Geschehens zu sein, das die Vergangenheit vergegenwärtigt und sich in die Zukunft weiterentwickeln wird. Dieses Geschehen kann auf die Zeit des Spätmittelalters und des Übergangs zur Neuzeit datiert werden.
Der Roman endet damit, dass durch die Tätigkeit der Inquisition und die daraus resultierende Korruption der Gesellschaft der einzige wirklich unschuldige Mensch unter den etwa 70 Figuren, nämlich Theres, auf dem Scheiterhaufen verbrannt wird. Nicht einzelne Bösewichte, sondern die ganze Gemeinschaft trägt die Verantwortung für dieses Geschehen.
Ich habe "Der Fürst der Welt", der mich schon vor Jahren fasziniert hatte, nun als Wissenschafterin gelesen, und die Elemente des Mythischen und des magischen Realismus analysiert. Dafür ist die Feststellung der durchgehenden Elemente unentbehrlich. Ich liste die wesentlichen auf:
Das Böse in der Welt ist das Hauptmotiv. Schon beim Titel stellt sich die Frage "Wer ist der Fürst?" Schnell erkennt man, dass er jedenfalls keine konkrete Person ist, sondern eine Allegorie bzw. eine Abstraktion, die keiner kennt, von der jedoch alle das Gefühl haben, hier trete das Böse in seinen verschiedenen Erscheinungsformen auf. Oft wird der Satan erwähnt und zum "Herrn der Welt" erklärt. Schon im ersten Teil des Romans findet sich mit der Erwähnung des in Papstgestalt leibhaftig auf der Erde weilenden Bösen eine Anspielung auf den NS-Führer: "Und um dieses Lumpen willen tun wir unser deutsches Blut vergießen!" ist dort auf einem Flugblatt zu lesen.
Das Motiv der alltäglichen Gewalt, die sich oft auch als daraus resultierendes Grauen manifestiert, wird durch das Motiv der Angst ergänzt. Es stellt die engste Analogie zum Terror des Nationalsozialismus dar. Das Foltern der "Hexen" und die minutiöse Beschreibung der Folterinstrumente dienen der einprägsamen Darstellung der Gewalt.
Damit verbunden ist die Pro-blematik von Schuld und Verantwortung. Letztendlich ist der soziale Verhaltenskodex, und nicht etwa "das Schicksal" der Grund dafür, dass der "Mord" an Theres nicht verhindert wird.
Das Motiv der Liebe wird im Wesentlichen in zwei Facetten thematisiert: als verbotene Liebe der zur Nonne gewordenen Hiltrud zu ihrem Priester und als dessen skrupellose Liebe zu Macht und Geltung.
Das Motiv der Einsamkeit des Einzelnen in der Gesellschaft wird am besten durch Theres symbolisiert.
Erika Mitterer hat auf mythische Stoffe zurückgegriffen - zum Zweck der Darstellung einer Wirklichkeit, die nicht anders hätte beschrieben werden können. Somit hat sie engagierte Literatur geschaffen: das Ziel ihres Werkes ist einerseits kritisch-aufklärerisch, kommuniziert andererseits aber eine ästhetische Realität.
Meines Wissens hat sich bis jetzt noch keine Analyse dieses Romans die Untersuchung aus mythologischer Sicht zum Ziel gesetzt. Nur in einer Studie von Wendelin Schmidt-Dengler wird vom Legendencharakter des Romans gesprochen, der dem Märchen nahe stehe und an Volksbücher mit Rittersagen erinnere. Allerdings sind im "Fürst der Welt" keine reinen Mythen aufzufinden.
Zwischen Mythen, Ritualen und Symbolen gibt es eine innere Beziehung. Der bekannte rumänische Religionswissenschaftler Mircea Eliade (1907 - 1986) spricht davon, dass Mythen, Rituale und Symbole "auf verschiedenen Ebenen und mit den ihnen eigenen Mitteln ein komplexes System von zusammenhängenden Feststellungen über die letzte Wirklichkeit der Dinge zum Ausdruck" brächten, - "ein System, das man als Darstellung einer Metaphysik betrachten könne."
Mythos und Politik
Wenn Erika Mitterer neben der Darstellung des historischen Mittelalters die Entlarvung ihrer zeitgenössischen nationalsozialistischen Wirklichkeit zum Ziel hatte, dann kommt den mythischen Stoffen eine besondere Funktion im Text zu. Durch das im politischen Mythos enthaltene "Sinnversprechen" wird die Gegenwart mit der Vergangenheit verbunden, wobei die Vergangenheit über die Gegenwart hinausgreift und die Zukunft vorwegnimmt.
Zwei mythische Stoffe, die im Roman verwendet werden, möchte ich besonders hervorheben: den Mythos der "ewigen Wiederkehr des Gleichen" und das "Märchen vom Marienkind".
Mehr als ein halbes Jahrhundert musste nach Nietzsches "Also sprach Zarathustra" verstreichen, ehe Mircea Eliade die Idee der "ewigen Wiederkehr" wieder aufgenommen hat. In seinem Essay "Kosmos und Geschichte: Der Mythos der ewigen Wiederkehr" betont Eliade, dass Geschichte immer von einer kleineren Menschengruppe, im schlimmsten Fall nur von einem einzigen "Führer" gemacht wurde; alle anderen waren Mitläufer und bildeten eine manipulierte Masse.
Genau in diesem Sinn zeigt sich in Mitterers Roman der Mythos der ewigen Wiederkehr in der Analogie zwischen der Gewalt der Inquisition und dem Angst verbreitenden NS-Regime!
Das Märchen vom Marienkind wird Hiltrud ein einziges Mal im ersten Teil des Romans erzählt: Kernpunkt ist wie bei den Brüdern Grimm die Unfolgsamkeit des kleinen Mädchens, das gegen die Weisung der Jungfrau Maria die "13. Kammer" öffnet, worauf der Glanz der Dreieinigkeit einen Finger vergoldet, der somit ihre Unfolgsamkeit ans Licht bringt. Das Märchen vom Marienkind gehört zu den Initiationsmärchen, die von archaischen Formen der Jugendweihe berichten; es hat eine religiöse Färbung und übernimmt bei Mitterer eine leitmotivische Funktion, indem die Mädchengestalt des Märchens als Pendant für die sich sündhaft verhaltende Hiltrud verstanden wird.
Der Roman bietet in seiner Ganzheit eine "Amalgamierung" von mythischen Elementen, die uns zum sogenannten "magischen Realismus" führen, als dessen bedeutende Elemente "das Denken in Bildern", eine Fusion von "wirklicher Wirklichkeit" und "magischer Wirklichkeit" und eine nicht-lineare Zeitvorstellung gelten. Im "Fürst der Welt" erleben wir eine "magische" Zeit, denn zwischen Mythos und Geschichte gibt es nur eine verschwommene Abgrenzung; es ist nicht genau festzustellen, was faktisch und was fiktional ist.
Magie und Wirklichkeit
Der aus zwei Gegensätzen gebildete Begriff "magischer Realismus" ist durch die Koexistenz rationaler Wirklichkeitserfahrung und magischer Wirklichkeitsdeutung gerechtfertigt. In Mitterers Roman wird z. B. in der Person der alten Amme ein besonderer Kult des Übernatürlichen zum Symbol erhoben: Die Wirklichkeit kann magisch betrachtet werden, ohne dabei auf eine kritische Sichtweise zu verzichten.
Der so komponierte Roman ist ein Meisterwerk, weil mythische Elemente, magische Vorgänge, Traumbilder und übersinnliche Fähigkeiten so überzeugend in das Wirklichkeitsbild eingeflochten sind, dass diese von Magie erfüllte Realität als völlig selbstverständlich hingenommen werden kann. Die Autorin schrieb in der Absicht, ihre unmittelbare blutige Gegenwartsrealität poetisch zu erklären. Da dies direkt nicht möglich war, griff sie zur mythischen und magischen Darstellung der Realität. Ob sie bewusst zu diesen Darstellungsmitteln gegriffen hat, mag offen bleiben. Sicher ist, dass Erika Mitterer gezielt "verdeckt" hat schreiben wollen und dass ihre Darstellung der Gewalt die Nazigewalt gemeint hat.
Die einzigartige Wirkung von Erika Mitterers Roman "Der Fürst der Welt" liegt in der Bildhaftigkeit der Erzählsprache: ein genauer Spiegel der spätmittelalterlichen Wirklichkeit entlarvt die zeitgenössische Realität als Panorama des Grauens. Dabei haben auch Träume eine bedeutende Funktion und oft verschmelzen Realität und Traum miteinander. So entsteht jene "magische Realität", die uns noch heute einen Lektüregenuss beschert.
Erika Mitterer: Der Fürst der Welt. Seifert Verlag, Wien, 710 Seiten, 29,90 Euro.Weitere Informationen zur Autorin unter: http://www.erika-mitterer.org/Maria Sass, geb. 1959, ist Professorin für neuere deutschsprachige Literatur und Übersetzungswissenschaft an der Lucian-Blaga-Universität Sibiu/Hermannstadt (Rumänien).
Der 10. Todestag
Österreich 1 widmet Erika Mitterer die Sendung "Du holde Kunst" am 9. 10. um 8 Uhr 15, und die "Tonspuren" am 10. 10., 21 Uhr, und am 13. 10. um 16.00 Uhr.
Das Brenner-Archiv in Innsbruck veranstaltet am 10. 11. um 14.00 Uhr im Literaturhaus am Inn die Tagung "Rainer Maria Rilke, Erika Mitterer und die Förderung der Sprachkunst im Literaturbetrieb der Gegenwart".
Am 21. 11. wird Renate Schuster im Pfarrsaal von St. Elisabeth autobiographische Texte von Erika Mitterer vortragen (1040 Wien, St. Elisabethplatz 9, 19.00 Uhr).
Der "Briefwechsel in Gedichten", den die junge Erika Mitterer mit Rainer Maria Rilke führte, wird auf einer neuen CD von Marianne Nentwich und Peter Matiè gelesen. (Edition Doppelpunkt und Preiser Records).