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Das Mittelmaß gibt es nicht

Von Eva Stanzl

Wissen
Wer sich entfalten will, muss den Kopf aus dem Sand nehmen.
© © © William James Warren/Science Faction/Corbis

Genetiker Markus Hengstschläger lobt in seinem neuen Buch die Außenseiter.


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Wien. Je schwieriger eine zu lösende Aufgabe ist, umso individueller sollten die Mitglieder eines Teams sein. Warum diese These einleuchten soll, erläutert der Wiener Humangenetiker Markus Hengstschläger. "Wenn 100 Menschen mit der gleichen Ausbildung nach einer Lösung suchen, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass sie den gleichen Ansatz wählen", erklärt er im Gespräch mit der "Wiener Zeitung" zu seinem am Donnerstag erschienenen Buch "Die Durchschnittsfalle". 100 Menschen mit unterschiedlicher Ausbildung würden naturgemäß auf verschiedene Antworten kommen. "Individualität ist das beste Konzept, um sich auf die Fragen der Zukunft, die wir noch nicht kennen, vorzubereiten", sagt er. Eine Gesellschaft, die erfolgreich sein will, müsse sicherstellen, dass seine Mitglieder sich nicht dem Mittelmaß beugen.

Für Hengstschläger, der 2005 zum jüngsten Universitätsprofessor für medizinische Genetik berufen wurde und laut eigenen Aussagen mit 16 Jahren ein Punk war, ist der Durchschnitt ein "zahnloses Instrument", ja sogar eine evolutionäre Sackgasse. Je größer die Varianz, desto höher sind die Chancen, zu überleben: Etwa gibt es der Evolution zufolge 1000 verschiedene Schneckenarten, damit die Spezies Umweltveränderungen überlebt. Der Durchschnitt sei also keine biologische, sondern eine rein mathematische Größe. So mögen Statistiker zwar errechnet haben, dass die durchschnittliche Körpergröße für Frauen 1,65 Meter beträgt, jedoch sind nur wenige Frauen exakt so groß - ebenso wie wenige den durchschnittlichen Intelligenzquotienten haben. Sich am Durchschnitt zu messen ist so, als würde man einer von Statistikern geschaffenen Illusion nachlaufen, anstatt der Welt seinen eigenen Beitrag angedeihen zu lassen.

Jedes Kind erhält seine 22.500 Gene zur Hälfte von Mutter und Vater, wobei Mutter und Vater ihrerseits beide Sets je zur Hälfte von ihren Eltern geerbt haben, und so fort. Welche Gene in welcher Kombination weitergegeben werden, ist Zufall. Hinzu kommen weitere biochemische Prozesse, wie etwa Eiweiß-Verbindungen, und epigenetisch vererbte Merkmale. Aus dem Pool erhält jeder sein individuelles Set als Startkapital - sprachliche, mathematisch-logische, räumlich-visuelle, praktisch-naturalistische, künstlerisch-kreative oder sportliche Begabungen.

"Jeder hat seine individuellen Leistungsvoraussetzungen", so der Genetiker. Diese sollten erkannt, gefördert und vor allem geübt werden. Zu welchem Anteil welche Begabungen genetisch sind, lasse sich allerdings schwer sagen, "denn das ist unterschiedlich. Feststeht: Ohne Training können sie nicht gesteigert werden. Wenn wir nicht an der Förderung von Talenten interessiert sind und die Individualität bremsen, werden wir bald keine Antworten mehr haben", so Hengstschläger.

Österreich folge allerdings einem anderen System. "Wenn ein Kind den ganzen Tag am Computer spielt und dann drei Nicht Genügend und ein Sehr Gut im Zeugnis hat, sagen wir: Wo du den Einser hast, musst du nichts mehr machen: Konzentriere dich auf die Fächer, in denen du den Fünfer hast. Mit dem Erfolg, dass das Kind in allen Fächern mittelschlecht wird", kritisiert er den Trend zu Anpassung und damit auch die Politik. Richtigerweise müssten die Eltern sagen: Mein Kind hat einen Einser gekriegt, ohne zu lernen. In diesem Bereich könnte sein Beitrag liegen.

Der Revoluzzer im Menschen

Doch braucht ein Land nur Genies, oder benötigt es nicht auch System-Aufrechterhalter? "Talente darf man nicht werten. Vielleicht ist Systemerhalter ein Talent der Zukunft", betont der Genetiker. Bildungsferne Schichten müssten zur Bildung gebracht werden nicht um den Durchschnitt zu heben, sondern um neue Talente hervorzubringen. Anstatt mit der Masse zu schwimmen, müsse die Politik Individualität fördern.

Doch zeugt ein Bestreben, nicht hervorzustechen, nicht auch von einem Wunsch, integriert zu sein? Wie schwierig es ist, das umfassende Thema Individualität auf einen Nenner zu bringen, verdeutlicht das Titelbild des Ecowin-Verlags. Zu sehen ist ein Kind mit Tätowierung, Punk-Frisur und verkniffenem Gesichtsausdruck. Man könnte den Eindruck gewinnen, es handelt sich um einen Ratgeber, wie Eltern ihr Revoluzzer-Kind besser erziehen könnten. Dabei soll doch genau der Revoluzzer im Menschen gefördert werden.