Vor allem Dokumente der Verunsicherung. | Die Tätersicht wurde meist ausgeklammert. | Kritiker vermissen neues historisches Bewusstsein.
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Ausgerechnet ein Otter. In Gary Shteyngarts Roman "Super Sad True Love Story" wird Hauptfigur Lenny Abramov ausgerechnet von einem virtuellen Otter bei der Einreise in die USA schikaniert. Dort ist nämlich die ARR am Werk: die Amerikanische Restaurationsregierung. Und die weiß alles über jeden - von der Bonität bis zur "Fuckability". Mitunter stehen da in New York auch Panzer herum, auf denen Schilder verbieten, an die Existenz dieser Panzer zu glauben. Ein grotesker Überwachungsstaat mit mehr als comichaften Zügen - auch das ist Literatur, die es ohne 9/11 so wohl nicht geben würde .
Wie viel Sicherheit die Freiheit verträgt, das ist eins der Themen, mit denen sich die jüngeren Erscheinungen aus dem Miniatur-Genre "9/11"-Literatur beschäftigen. Der Architekt Friedrich von Borries hat etwa diesen Sommer "1WTC" veröffentlicht. Darin lässt er sich vom untergetauchten Künstler Mikael Mikael eine haarsträubende Geschichte erzählen: Mit einem Stipendium gerüstet, zieht der Deutsche nach New York, seine Mission: ein Kunstprojekt, für das er einen Film daraus schneiden will, wie seine Freundin von Überwachungskameras gefilmt wird, während sie schreit: "Show you’re not afraid. Go shopping." Das war jener Spruch, den New Yorks Bürgermeister Rudy Giuliani am 12. September 2001 seinen Bürgern mit auf den Weg gab. Eine Hackerin hilft Mikael dabei, an dieses Überwachungs-Filmmaterial zu kommen.
Das größte Kunstwerk?
Der Höhepunkt des Films soll am Gelände des neu entstehenden World-Trade-Center-Komplexes "gedreht" werden. Dass dort der Militärgeheimdienst eine ganz neue Interpretation des Namens "Freedom Tower" anpeilt, kann ja keiner wissen. Im Keller soll nämlich eine nachgerade utopische Folterkammer gebaut werden, die islamistische Terrorverdächtige durch die Illusion eines Paradieses - inklusive williger Jungfrauen - dazu bringen soll, die Pläne ihrer Komplizen zu verraten. Und da sollte man sich als Zivilist besser fernhalten.
Borries’ Thriller mag hier reichlich hanebüchen klingen. Er ist aber mit so vielen mehr oder weniger befremdenden Fakten unterfüttert - ob es nun um die Architektur der neuen Türme geht oder um Egoshooter-Videospiele, die man sich auf US-Militärhomepages gratis runterladen kann -, dass die Lektüre einen beklemmenden Nachgeschmack hinterlässt.
Das Diktum von Theodor W. Adorno "Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch" lag auch nach den Anschlägen des 11. September 2001 unübersehbar auf dem Tisch. Heute ist man sich der Unverhältnismäßigkeit bewusst, damals saß der Schock zu tief. Der britische Autor Martin Amis stellte sich die Situation seiner Kollegen nach den Attacken so vor: "Die Schriftsteller auf der ganzen Welt saßen an ihren Schreibtischen und überlegten zögerlich, ob sie nicht einen Berufswechsel anstreben sollten." Sein Landsmann Ian McEwan, der später den 9/11-Roman "Saturday" schreiben sollte, sagte, er habe es damals "ermüdend" gefunden, "über erfundene Figuren nachzudenken."
Dazu kamen auf der anderen Seite denkwürdige Wortspenden von Intellektuellen wie dem Komponisten Karlheinz Stockhausen, der die Anschläge als "das größtmögliche Kunstwerk, was es je gegeben hat, (...) das größte Kunstwerk, was es überhaupt gibt für den ganzen Kosmos" bezeichnete. Die Ausgangslage für eine literarische Aufarbeitung war also keine optimale.
Zwar hat ein Paul Auster, der als New Yorks Quasi-Stadtschreiber gelten kann, bis dato kein explizites Post-9/11-Werk abgeliefert. Aber das mit dem Berufswechsel kam natürlich nicht in Frage. Es dauerte nur zwei Jahre, bis der erste die Katastrophe in den Mittelpunkt eines Romans stellte. Ausgerechnet der Franzose Frederic Beigbeder, nicht eben für stille Pietät bekannt, machte den Anfang mit "Windows on the World". Er erzählte die lapidare Geschichte eines Vaters, der mit seinen Söhnen im Restaurant im obersten Stockwerk des World Trade Centers eingeschlossen ist.
Bei amerikanischen Literaturgrößen dauerte die Schrecksekunde länger. Und eine kapitale Unsicherheit und Sprachlosigkeit war es deshalb auch, die in den Büchern dominierte. Jonathan Safran Foer machte folgerichtig ein Kind zur Hauptfigur seines Romans "Extrem laut und unglaublich nah". Denn, so erklärte sich Foer, die Orientierungslosigkeit seiner Landsleute war nur mit der eines verwirrten Kindes gleichzusetzen. Die Unmöglichkeit, dem Erlebten mit der Sprache beizukommen, illustrierte er mit postmodernen Formalspielchen - und einem überraschend tröstlichen Daumenkino am Ende des Buches: Da fällt ein Selbstmord-Springer den Turm "hinauf".
Nabelschau mit Klischees
Die Türme - sie sind immer da. Kein Pentagon, kein Flug 93 - die Literatur des 9/11-Genres konzentriert sich nahezu ausschließlich auf die Geschehnisse in New York. Das Grauen dort hatte eine schaurige Plakativität, hatte selbst schon fiktiven Charakter. Nicht wenige fühlten sich ja an Hollywood-Actionfilme erinnert. Don DeLillo hat sich entsetzt gewehrt, als ihm die Frage gestellt wurde, ob er beim Anblick der einstürzenden Twin Towers gedacht habe: "Das hätte mir einfallen können". Er hat mit "Falling Man" (2007) eines der Bilder, die man unwillkürlich beim Gedanken an 9/11 vor sich hat, literarisch vertont. Dabei geht es aber gar nicht um einen "Jumper", sondern um einen Überlebenden. Keith schafft es aus dem World Trade Center heraus. Staubig und mit Glasscherben übersät, irrt er durch New York - in der Hand eine Aktentasche, die er nie zuvor gesehen hat. DeLillo fängt die Taubheit, die Amerika und die westliche Welt in den Tagen und Wochen nach den Anschlägen durch den Alltag taumeln ließ, metaphorisch ein. Daneben leuchtet bei ihm auch immerhin ein Funken Selbstkritik am "narzisstischen Herzen des Westens" auf.
Wäre man ein gar kritischer Literaturkonsument, dann könnte man nämlich auch sagen, dass die 9/11-Prosa bloße Nabelschau einer gekränkten Nation ist. Ein solcher kritischer Konsument ist der indische Essayist Pankaj Mishra. Er wirft den Autoren vor, eine künstlerische Zäsur, wie sie in Europa nach dem 1. Weltkrieg geschafft wurde, verpasst zu haben. Tatsächlich kommt die Sicht der Täter auffällig zu kurz. Und wenn es sie gibt, dann sind selbst renommierte Schriftsteller wie ein John Updike ("Terrorist") nicht vor Klischees gefeit. Mishra unterstellt nicht nur Updike, auf windigen Koran-Erklärwebseiten recherchiert zu haben. Das Stereotyp von den Jungfrauen, mit denen die Selbstmordattentäter belohnt werden sollen, stößt ihm besonders auf. Ein neues historisches Bewusstsein wäre den USA gut bekommen, die Literatur von Updike oder DeLillo habe dazu aber nichts beitragen können.
Doch kein Ende der Ironie
Die andere Seite, die die US-Autoren so gerne ausblenden, die wurde schließlich im Roman "Der Fundamentalist, der keiner sein wollte" beispielhaft elegant beleuchtet. Wie man sich Schritt für Schritt von der westlichen Gesellschaft entfremdet, das musste ein Pakistani schreiben. Mohsin Hamid, der in New York studiert hat, verarbeitete autobiografische Erfahrungen mit der alltäglichen Ausgrenzung.
Graydon Carter, Chefredakteur von "Vanity Fair", hätte sich nach 9/11 wohl gern als Adorno der Lifestyle-Magazine gesehen, als er postulierte: "Das ist das Ende des Zeitalters der Ironie." Die These beschäftigte zumindest Rudolph Delson in dessen geschwätzigen Liebesroman "Maynard & Jennica" (2007). Dass sich die Prophezeiung Carters nicht bewahrheitet hat, zeigt freilich der Ausgangspunkt eines anderen Romans: "A Disorder Peculiar to the Country" (2006) von Ken Kalfus. Da geht es um ein New Yorker Ehepaar, das mitten in einem üblen Scheidungskrieg steckt. Am Morgen des 11. Septembers keimt bei jedem der beiden Hoffnung: dass der verhasste Ehepartner in einem der WTC-Türme gewesen ist.