Werkstatt für neue Lebensmodelle: die Kulturwissenschaft. | Wien. Dass Europa langsam, aber unaufhaltsam altert, ist ein mittlerweile auch politisch hochbrisantes Thema. Die Fakten sprechen für sich: Im Jahr 2000 war ein Drittel der jetzigen EU-Bevölkerung über 49 Jahre alt. Bis zum Jahr 2050 wird es die Hälfte sein. 30 Prozent werden bis dahin das momentane Pensionsalter erreicht haben. Der Anteil der Unter-25-Jährigen ging hingegen von 40 Prozent im Jahr 1975 auf 30 Prozent im Jahr 2000 zurück und wird 2050 nur 23 Prozent ausmachen.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 17 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Die Konsequenzen für Arbeitsmarkt, Gesundheitswesen und Pensionssicherung gehören zum tagespolitischen Gesprächsstoff. Eine grundlegende Frage bleibt aber oft unberücksichtigt: Wie wird das Zusammenleben der Generationen in einer ergrauten Gesellschaft aussehen? Werden Alt und Jung noch gemeinsam leben oder wird man "die Alten" an den Rand drängen?
Die Wissenschaft vom Altern des Menschen ist trotz der gesellschaftlichen Relevanz ein junges Forschungsfeld. Aus Sicht des Kölner Bildungswissenschafters Hartmut Meyer Wolters fehlen uns für eine mehrheitlich ältere Bevölkerung die geschichtlichen Erfahrungen. Die neue Situation sei für das künftige Zusammenleben daher doppelt beunruhigend.
Fehlende Konzepte
Wolters: "Wir können nicht mehr so leben wie bisher, wissen aber noch nicht, wie wir künftig leben sollen. Uns fehlen die Konzepte." Daher sollten die Kulturwissenschaften künftig eine kreative Rolle beim Entwickeln neuer Konzepte übernehmen.
Wolters hielt Donnerstagabend den Eröffnungsvortrag der zweitägigen Konferenz "Methoden kulturwissenschaftlicher Altersforschung", die von der Wiener Fakultät für Philosophie und Bildungswissenschaft organisiert wird. Der Kölner Wissenschafter zeigte forschungsmethodische Ansätze einer neuen Kulturwissenschaft, die sich als Werkstatt zukünftiger Lebensmodelle versteht.
Während früher gesellschaftlich vergleichsweise homogene Vorstellungen über das Alter vorgeherrscht hätten, gebe es für die heutige Situation keine Konvention. Derzeit tauchten nur vereinzelte Lebensmodelle auf. Für die Pensionszeit reicht das Spektrum von rein individualistischer Zeitausnützung bis zum ehrenamtlichem Engagement. Je nach Berufsgruppe differieren auch die Herausforderungen. Handwerker hätten geringere Schwierigkeiten, ihre Tätigkeit weiterhin auszuüben, als Büroangestellte. "Meine Antwort ist: Jeder soll selber reflexiv entscheiden, für welches Modell er sich entscheidet. Man muss nicht die Alten ins Ehrenamt drängen."
Jede Menge Material
Ein schier unbegrenztes Material unterschiedlicher Altersvorstellungen zeige sich in neuen Ratgebern, Filmen oder Werbung. Kulturwissenschaftliche Altersstudien sollten das gesamte Material klassifizieren, neue Facetten der Alterskultur erkunden und ein Forum neu produzierter Formen des Alterns bereitstellen, um sie kritisch zu untersuchen. Wird Wissenschaft dann nicht am Ende zu Politikberatung?
"Ich habe noch keine endgültige Antwort darauf, wo die Grenzen der Forschung verlassen werden", gab Wolters zu. Auch die Objektivität der Ergebnisse ist zunächst zweifelhaft. Im konkreten Fall sei der Wissenschafter ja auch persönlich von der Thematik betroffen. "Wir haben auch selbst Vorstellungen, wie das Altern auszusehen hat."
Die Erforschung des Alters sei vor allem ein interdisziplinäres Anliegen. Wolters gehört zur interdisziplinären "Kulturwissenschaftlichen Forschungsgruppe Demographischer Wandel" an der Uni Köln, an der sich zurzeit Professoren von elf Unis beteiligen.