Das bulgarische Kloster Rila ist nicht nur ein Kunstschatz ersten Ranges, sondern auch ein Ort der Spiritualität und ein Symbol der nationalen Identität Bulgariens.
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"Wer das Rila-Kloster nicht besucht hat, war nicht in Bulgarien." - Das behauptet in diesem mit Klosteranlagen reich gesegneten Balkanland zumindest der Volksmund. Von Sofia aus lässt sich das leicht überprüfen, liegt das Rila-Kloster doch fast vor der Haustüre. Dank EU-Zuschüssen konnte die Autobahn in das gleichnamige Gebirge gut ausgebaut werden, man kommt zügig voran. Bald zeichnen sich die oft über 2000 Meter hohen, schneebedeckten Gipfel des südwestlich liegenden Gebirgsmassivs nahe der Grenze zu Makedonien ab.
Der Bus verlässt die Autobahn und schaukelt über eine schmale Landstraße durch Dörfer, die seltsam menschenleer wirken. In zahlreichen Serpentinen fährt man immer höher in eine wilde, archaisch anmutende Waldlandschaft. Der Weg zum glänzendsten Stern unter den vielen Klöstern Bulgariens verlangt den Besuchern in der Hochsaison auf den letzten Kilometern Geduld ab. Endlich ist die Straße zu Ende, mit etwas Glück können die Autofahrer auf der Parkfläche vor dem Kloster einen Platz ergattern.
Dahinter zeichnet sich die Silhouette des höchst gelegenen Klosters in Südosteuropa ab. Im zehnten Jahrhundert in einem langen und tief eingeschnittenen Tal auf fast 1200 Metern vom Eremiten Ivan Rilski gegründet, gilt das legendäre "Rilski Manastir" als Bulgariens wichtigste Schatzkammer der Malerei und Holzschnitzkunst.
Von außen lässt sich das bestenfalls erahnen. Kleine Fenster, die an Schießscharten erinnern, durchbrechen die bis zu 20 Meter hohen Wände, die durch Stützstreben noch größer wirken. Rila sieht aus wie eine Gebirgsfestung - düster, wehrhaft und uneinnehmbar. Genau diese Wirkung wollten ihre Erbauer erzielen. Die Osmanen hatten während der fast 500-jährigen Besetzung Bulgariens das abgelegene Kloster zwar nie angetastet; dennoch erlebte die Klostergemeinschaft, die zu ihren Glanzzeiten bis zu 300 Mönche umfasste, etliche Überfälle und Naturkatastrophen.
Der Neuaufbau
Nachdem ein Großbrand Rila 1833 in Schutt und Asche gelegt hatte, wurde es umfassend neu und größer als je zuvor erbaut - als orthodoxes und nationales Bollwerk gegen die muslimische Fremdherrschaft. Auf deren Ende mussten die Bulgaren damals noch etliche Jahrzehnte warten. Dabei gingen die Baumeister mit solch einem Feuereifer an die Aufgabe heran, dass eine angegliederte Kirche aus dem Jahr 1343 vollständig abgebrochen wurde. Wirklich alt ist nur der völlig erhaltene Chreljo-Turm, ein fünfstöckiger gedrungener Festungsturm mit der freskenbemalten Christi-Verklärungskapelle in luftiger Höhe. Auf über 32.000 Quadratmetern entstanden bis 1962 wieder 300 Mönchszellen, vier freskenverzierte Kapellen, eine Bibliothek sowie ein ausgedehnter Wirtschaftsbereich. Holzschnitzereien und Fresken schmücken die zehn größten Gästezimmer.
Vor den zwei Eingangstoren warten Verkäufer von Devotionalien auf Kundschaft, sie bieten Kreuze, Ikonen und religiöse Literatur an. Ein paar Meter weiter riecht es verführerisch nach frischen Mekitzi, Teigkrapfen, die kurz in Öl gebacken und dann mit Puderzucker, Honig oder Marmelade überzogen werden.
Diesem Zwischenimbiss sind auch Maria Stankova und Slavka Katrandzhieva, die an diesem Tag von ihrem Wohnort Sofia aus einen Ausflug ins Rila-Gebirge unternehmen, nicht abgeneigt. So gestärkt, lassen sie den Trubel vor den Klostermauern hinter sich und betreten nach dem Eingangstor eine völlig andere Welt.
Nicht nur frühmorgens oder am späten Nachmittag, wenn sich dort nur wenige Besucher aufhalten, herrscht eine herrliche Stille. "Der Ort besitzt eine eigene Atmosphäre, eine bestimmte Energie, die dafür verantwortlich ist, dass man einfach zur Ruhe kommt und die Zeit vergisst", bekräftigt Maria, die als Übersetzerin und Philologin arbeitet.
Malereien und Fresken
So wenig einladend sich Kloster Rila von außen gibt, so heiter und verspielt bleibt der gepflasterte Innenhof, gerahmt von mehrstöckigen, mit Erkern und Balkonen verzierten Wohnflügeln, in Erinnerung. Luftige Arkaden sowie verschieden hohe Bögen aus Stein und Holz gliedern die Fassaden oben und unten. Je nach Tageszeit bieten bemalte Ziegel sowie weiße und schwarze Fassadenteile, Ornamente und Wandmalereien dem Auge ein abwechslungsreiches Spiel von Licht und Schatten.
Bei jedem Besuch betrachtet Maria fasziniert die Darstellungen auf den Wandmalereien und Fresken in und an der Klosterkirche. Hunderte von Gemälden waren damals geschaffen worden, sie zeigen biblische Szenen, Heilige, aber auch Persönlichkeiten des Zeitgeschehens wurden in kräftigen, lebhaften Farben verewigt. Selbst Szenen aus dem alltäglichen Leben der mittelalterlichen Bulgaren, darunter zünftige Bankette im Freien, haben die namenlosen Künstler verewigt.
Nicht weniger eindrücklich wirken auch heute noch die Darstellung von Fegefeuer und Hölle, bevölkert von furchterregenden Bestien und Feuer speienden Fabelwesen. Dieses Panoptikum des Schreckens sollte dem Betrachter vor Augen führen, welche Folgen ein zügelloser Lebenswandel nach dem Tod im Jenseits heraufbeschwören kann. Wohlgerüche aus der Klosterküche vermitteln den Betrachtern zur Mittagsstunde das beruhigende Gefühl, noch im Diesseits zu weilen.
Die Kunstwerke symbolisieren die bulgarische "Wiedergeburt" im 19. Jahrhundert ebenso wie die umfangreichen Bestände der Klosterbibliothek, in der auch die Werke des Mönchs und Chronisten Paisij Hilendarski aus dem 18. Jahrhundert aufbewahrt werden. "Oh, du Uneinsichtiger und Schwachsinniger, weshalb schämst du dich, dich Bulgare zu nennen?", zitiert Maria den Mönch, der seinen zaudernden und von Selbstzweifeln verfolgten Zeitgenossen damals gehörig die Leviten las. Die großartigen kulturellen Leistungen, die Kloster Rila auszeichnen, "stehen für die guten Abschnitte unserer Geschichte, ich verbinde das mit den positiven Seiten des bulgarischen Charakters", bekräftigt sie.
Die Mehrheit ihrer Landsleute sieht das wohl ähnlich. Keine kulturelle Stätte Bulgariens verkörpert für die Einheimischen stärker die bulgarische Identität als Rila, das während der kommunistischen Zeit als "nationaler Kulturkomplex" firmierte. Jene Räume, die einst frommen Männern Unterkunft geboten hatten, dienten von da an dem Tourismus.
Seit Beginn der 1960er Jahre verstaatlicht, wandelten die "roten Zaren" das Kloster in eine national-politische Gedenkstätte um. Mönche hatten dort keinen Platz mehr, sie wurden kurzerhand auf andere Klöster verteilt. Sonst herzlich wenig an der religiösen Befindlichkeit der Bürger interessiert, beschlossen die Machthaber jedoch einige Jahre darauf, die als unpopulär empfundene Entscheidung rückgängig zu machen. Die Mönche durften wieder in Rila einziehen, Gottesdienste in der fünfkuppeligen Klosterkirche blieben bis zum Ende des Kommunismus verboten. Unter ihren blauen Kuppeln werden in einem Sarkophag die Reliquien Ivan Rilskis aufbewahrt.
Mit der Aufnahme auf die Unesco-Welterbeliste hat die Unesco 1983 dem Gebirgskloster universellen Wert bescheinigt und sechs Jahre darauf erstattete der Staat Rila der orthodoxen Kirche vollständig zurück. Seither hat sich das Kloster wieder spürbar in einen Ort der Spiritualität zurück verwandelt, allerdings nahm, wie auch in anderen Klöstern, die Zahl der Mönche dramatisch ab. "Man sieht jedoch, wie sie auf die Besucher zugehen, mit ihnen das Gespräch suchen", schildert die Englischlehrerin Slavka. Viele Bulgaren haben ihrer Erfahrung nach zur Religiosität zurückgefunden. "In Rila finden sie mit ihren Anliegen und Problemen Beistand oder wenigstens Trost", fügt sie hinzu. Rila sucht den Dialog mit der Außenwelt: Bei vorheriger Anmeldung kann man sogar in bescheidenen Gästezimmern des nicht geschlossenen Klosterareals übernachten.
Rilskis Grotte
Als Studentin der Universität in der benachbarten Stadt Blagoevgrad zog es Slavka bei ihrem ersten Besuch im Kloster magisch zur Grotte, in der Ivan Rilski gelebt hatte. "Die Entscheidung, dort jahrelang völlig alleine zu leben, hat er selbstständig getroffen, niemand hat ihn dazu gezwungen, das finde ich bewundernswert." Wenn man durch einen schmalen Durchlass in sein natürliches Wohnquartier gelangt, "sieht man zwar nichts, das auf eine Wohnstätte schließen lässt, kann sich aber gut vorstellen, wie abgeschieden der Heilige gelebt haben muss", meint sie.
Ein Spaziergang zur Klause inmitten eines nach Kräutern, Harz und Pilzen duftenden Waldes gehört für die meisten Klosterbesucher zum Pflichtprogramm. Dann schöpfen sie klares Gebirgswasser aus einem Brunnen, an dem der Überlieferung nach schon der Heilige seinen Durst gestillt hatte.
Thomas Veser, geboren 1957, lebt als Journalist in Konstanz. Er schreibt u.a. über Reisen, Bildung, Kunst- und Kulturschätze und internationale Zusammenarbeit.