Während für die deutschen Konservativen die Grünen im Westen der Hauptkonkurrent sind, bleibt die AfD im Osten stark. Bei der Wahl in Sachsen-Anhalt am Sonntag können die Nationalpopulisten mit mehr als 20 Prozent rechnen.
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Sachsen-Anhalt ist ein Land ungewöhnlicher Konstellationen: 2016 wurde die erste Koalition zwischen CDU, SPD und den Grünen in einem deutschen Bundesland aus der Taufe gehoben. Es handelte sich um ein Notbündnis, um die Parteien an den Rändern, Linke und AfD, von der Regierung fernzuhalten. Nach der Wahl am Sonntag könnte die erste Koalition zwischen Christ- und Sozialdemokraten mit den Liberalen seit den 1950ern erfolgen. Es ist auch der erste Urnengang, seitdem Armin Laschet als Kanzlerkandidat von CDU/CSU bei der Bundestagswahl Ende September feststeht - gleichzeitig die bis dahin letzte Landtagswahl.
Wiewohl nicht einmal jeder 35. Bürger Deutschlands in Sachsen-Anhalt lebt, blicken alle politischen Kommentatoren auf den 2,2-Millionen-Staat. Gewinnt die CDU die Wahl, wird der Erfolg dem seit 2011 amtierenden Ministerpräsidenten Rainer Haseloff zugeschrieben. Verlieren die Konservativen, droht der Misserfolg an Laschet hängenzubleiben, der sich bis April einen erbitterten Kampf mit dem bayerischen Ministerpräsidenten Markus Söder um die Kanzlerkandidatur lieferte. Damals stellte sich Landesvater Haseloff indirekt gegen seinen Parteikollegen Laschet, indem er die deutlich größere Popularität von CSU-Chef Söder ins Treffen führte. "Die Skepsis ist geblieben", sagt Kerstin Völkl. "Ginge es nach dem sachsen-anhaltischen Landesverband der CDU, wäre Laschet nicht nur nicht Kanzlerkandidat. Er hätte auch den Parteivorsitz nicht inne, sondern Friedrich Merz", erklärt die Politologin an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.
Der Osten ist Merz-Land
Der prononcierte Wertekonservative und Wirtschaftsliberale Merz genießt im gesamten Osten hohes Ansehen. Dort sind nicht die Grünen Hauptkonkurrent der Union wie im Westen, es ist die AfD. In jedem Ost-Bundesland - mit Ausnahme des historischen Sonderfalls Berlin - haben die Nationalpopulisten bei den bisher letzten Landtagswahlen mehr als 20 Prozent erzielt. 24,3 Prozent waren es in Sachsen-Anhalt vor fünf Jahren, nun kann die AfD wieder mit bis zu einem Viertel der Stimmen rechnen. Und das, obwohl deren wichtigste Themen, Asyl, Migration und Integration, von Pandemie und Klimaschutzdebatte überlagert werden.
Sachsen-Anhalt teilt die Trends anderer Ost-Bundesländer: "Im Vergleich zum Westen gibt es wesentlich weniger Stammwähler, dafür einen hohen Anteil an Proteststimmen. Daraus ergeben sich große Schwankungen bei den Wahlergebnissen. Kurzfristige Faktoren wie Themen und Kandidaten spielen daher eine größere Rolle", analysiert Völkl. Jedoch sei der Erfolg der AfD teilweise nicht rational zu erklären: Spitzenkandidat Oliver Kirchner hätte bei der TV-Debatte einen "wenig lösungsorientierten, teils plumpen und wenig kompetenten Eindruck vermittelt", urteilt die Politologin. Mehrere AfD-Landespolitiker verträten rechtsextreme Positionen. "Zudem gelingt es der AfD zwar, den Eindruck zu erwecken, sie vertrete die Interessen vieler von den etablierten Parteien Enttäuschter. Das Wahlprogramm spiegelt dies aber nur bedingt wider."
Die CDU hält vor allem mit der Person Haseloff dagegen. Mehr als 90 Prozent der Bürger kennen den Ministerpräsidenten, zwei Drittel sind mit der Arbeit des 67-Jährigen zufrieden. Haseloff grenzt sich von AfD und Linkspartei ab. Beide kommen für ihn nicht als Koalitionspartner infrage. Damit liegt Haseloff auf Linie mit dem Beschluss der CDU beim Bundesparteitag 2018. Es gibt aber auch Gegenstimmen im Landesverband. Vor zwei Jahren forderte der Vize der Parlamentsfraktion, Ulrich Thomas: "Wir sollten eine Koalition jedenfalls nicht ausschließen." Später publizierte er mit dem Landtagsabgeordneten Lars-Jörn Zimmer eine "Denkschrift", in der es heißt: "Es muss wieder gelingen, das Soziale mit dem Nationalen zu versöhnen." Thomas und Zimmer sind keine Randfiguren, stehen bei der Wahl am Sonntag auf den Plätzen drei und vier der CDU-Landesliste. Andererseits forderten Parteimitglieder in einem im Mai bekannt gewordenen Brief an alle Landtagskandidaten, eine Zusammenarbeit mit der AfD auszuschließen.
Wunden der Wende
Die Populisten setzen an, wo im Osten auch mehr als 30 Jahre nach der Wende eine offene Wunde klafft: Noch immer sind die Pensionen niedriger als im Westen, bis 2024 soll die Angleichung erfolgen. Bei den Löhnen hinkt der Osten ebenfalls hinterher. "Auch in Sachsen-Anhalt haben viele Menschen enorme Verlusterfahrungen gemacht und sind arbeitslos geworden", erläutert Kerstin Völkl. Die Finanz- und Wirtschaftskrise sei das zweite einschneidende Erlebnis gewesen. Nun drohe ein drittes: der Strukturwandel in der Braunkohle und den daran hängenden Industriezweigen. Bis 2038 steigt Deutschland aus der Kohleverstromung aus, das bedeutet auch das Ende für das Mitteldeutsche Revier, das sich auch auf Sachsen-Anhalt erstreckt. Zwar sind Milliarden-Euro-Subventionen für die ansonsten wirtschaftsschwachen Regionen vorgesehen, doch die Sorge vieler Bürger ist groß. "Und die AfD hinterfragt bewusst die Sinnhaftigkeit dieses Strukturwandels", erklärt Politikwissenschafterin Völkl einen weiteren Erfolgsfaktor der Partei.
Kanzlerkandidat Laschet kennt diese Ängste, ist doch sein Bundesland Nordrhein-Westfalen ebenfalls vom Kohleabbau geprägt. Pflichtbewusst absolvierte er zwei Wahlkampfauftritte in Sachsen-Anhalt, offensiv geworben hat die dortige CDU jedoch nicht mit dem Bundesparteivorsitzenden. Als rheinische Frohnatur passt dieser nicht unbedingt zur Grundstimmung in Sachsen-Anhalt. Auch inhaltlich tun sich Gräben auf: Laschet hat stets die gerade im Osten so umstrittene Flüchtlingspolitik von Angela Merkel verteidigt. Sein Amt verdankt er dem Arbeitnehmerflügel, der Frauenunion und all jenen, die den Mitte-Kurs der Kanzlerin weiterführen wollen. Das betont konservative Merz-Lager konnte die CDU vernachlässigen, solange Merkel alternativlos schien und keine Wechselstimmung im Land herrschte. Doch jetzt wird diese Gruppe gebraucht, die Grünen sind bedrohlich nahe an die Union gerückt. Mit 24 Prozent liegen sie laut dem Forsa-Institut nur einen Prozentpunkt hinter CDU/CSU.
Zarter Aufschwung der Grünen
Selbst in Sachsen-Anhalt geht es für die Öko-Partei aufwärts - wenn auch auf deutlich niedrigerem Niveau als im Bund. Vor fünf Jahren übertraf die Gruppierung nur knapp die Fünf-Prozent-Hürde für den Einzug in den Landtag. Nun halten die Grünen bei rund neun Prozent. Es ist ihre klassische Klientel, die für den Aufschwung sorgt: Städter, Personen mit höherem Bildungsabschluss und Einkommen. Völkl konstatiert, die Bevölkerung am Land sprächen die Grünen jedoch weniger an. Anders verhält es sich im Westen.
Die Politikwissenschafterin empfiehlt daher der Union, im Bundestagswahlkampf zwei unterschiedliche Strategien anzuwenden. Die Partei solle weder die AfD im Osten noch die Grünen im Westen imitieren, sondern betonen, wo CDU und CSU in der Wahrnehmung der Wähler Problemlösungskompetenz zugeschrieben wird: zuallererst in der Wirtschaftspolitik. "Und die Union hat das C im Namen, der ideologisch-christliche Aspekt sollte aufgegriffen werden", sagt Völkl. "Die CDU hat in der Vergangenheit versäumt, sich hier klar zu positionieren." Und es fällt ihr schwer, nun Antworten zu finden. Noch immer wird am Programm für die Bundestagswahl gefeilt.
Eines kann sich die Union jedoch nicht leisten: Den Osten rechts liegen zu lassen, weil im Westen fünfmal so viele Bürger leben und somit deutlich mehr Wählerstimmen zu holen sind. Politologin Völkl erinnert daran, wie der Bayer Edmund Stoiber als Kanzlerkandidat 2002 die "neuen" Bundesländer vernachlässigte: "Der Osten kann entscheidend für einen Wahlausgang sein."