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Das Paradoxon des Allein-Seins

Von Eva Stanzl und Ina Weber

Wissen
Single-Sein kann sowohl ein Genuss als auch eine Qual sein.
© © Radius Images/Corbis

Vom verfemten Hagestolz zum Single in der heutigen Zeit. Beziehung ist oft keine Kraftquelle mehr. | Alleinstehende sehnen sich nach Gesellschaft.


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"Single zu sein ist nicht gleich einsam zu sein. Single zu sein ist verbunden mit Freiraum. Ich kann mein eigener Herr sein", sagt Gabor, 35 Jahre, Shiatsu-Therapeut aus Wien. Und: "Ich muss mit niemandem diskutieren, wenn ich das Licht in der Speis’ brennen lasse oder die Tupperschüsseln mal drei Tage lang nicht aus dem Büro mit nach Hause nehme. So lange ich Single bin, kann mir niemand den Tag gleich in der Früh vermiesen."

Gabors Einstellung teilen viele. Egal, ob sie bereits als Single leben oder es sich insgeheim wünschen. Denn dem Single-Dasein ist der eigene Lebensraum immanent - selbst wenn es nur ein paar Quadratmeter in einer Wohngemeinschaft sind. Seinen Lebensraum bezeichnet der 35-Jährige als Rückzugsgebiet und Kraftquelle zugleich. "Es ist niemand da, der mir Vorwürfe macht, mich mit zu hohen Erwartungen konfrontiert oder Befehle erteilt."

Sind Beziehungen schwieriger geworden? Oder haben sie heute weniger Wert? Auf alle Fälle sind sie nicht mehr selbstverständlich, und der finanziell abgesicherte Single bahnt sich seinen Weg.

Der Single als Sonderling

Doch wann ist man überhaupt "Single"? Das Internet-Lexikon "Wikipedia" gibt eine Definition, die auf den ersten Blick überraschen mag: Demnach tritt der Status dann ein, wenn man alleine wohnt - jedoch auch, wenn man Kinder hat und sogar mit ihnen in einem Haushalt lebt. Ein Single kann man laut Lexikon auch sein, wenn man verheiratet ist, jedoch in getrennten Wohnungen lebt. Ein Single ist jemand, der einen Partner sucht, keinen Partner will, oder sich in einer bestehenden Partnerschaft nicht gebunden fühlt. In den USA sollen laut Lexikon heute mehr Singles leben als verheiratete Paare.

Alte Jungfer, Hagestolz, Vagabund: Wer vor dem 20. Jahrhundert alleinstehend war, war meistens wirklich allein. Die Alleinstehenden galten als Einzelgänger, die weder Ehre noch Geld besaßen. "Höchstens bei Philosophen und Künstlern war der Sonderstatus akzeptiert", sagt Soziologe Roland Girtler. Bauer suchte Bäuerin, um den Besitz zu erweitern, Arbeiter Arbeiterin, um die Kosten zu teilen. Ehen dienten unter anderem der finanziellen Besserstellung. Wer hingegen alleine blieb, hatte wenig. Die damaligen besitzlosen Alleinstehenden zogen von Hof zu Hof, um Arbeit anzunehmen. Wer dafür zu alt war, aber Glück hatte, fristete das Ende seiner Tage in einer Einleger-Wohnung auf einem Hof.

Heute sind Singles ein selbstverständlicher Bestandteil der Gesellschaft. Single-Börsen schießen aus dem Boden - wer sucht, muss sich nicht verstecken. Doch die Verfügbarkeit von Kandidaten im Internet macht Beziehungen auch beliebiger und austauschbarer. Wenn jemand nicht passt, dann kommt halt der nächste, nur nicht zu lange trauern.

Gleichzeitig steigen die Ansprüche an den Partner in kühne Höhen, wie eine Umfrage der Internet-Agentur Parship zeigt, in der die Befragten die Sehnsucht nach dem Traumpartner zum Ideal erheben: Männer wünschen sich eine Frau, die selbstständig ist, aber auch genug Zeit hat. Idealerweise sollte sein Job besser bezahlt sein als ihrer, und sie sollte sportlich sein und gut aussehen. Frauen wünschen sich einen Partner, der einen guten Job hat, gepflegt und fesch ist, er muss Macho sein und Frauenversteher zugleich. Diese Traum-Beziehung sollte am besten ein Leben lang halten. "Zu 100 Prozent" den Traumpartner verspricht gar die Vermittlungsagentur "Academic Partner". Singles wünschen sich dort einen "100 Prozent kultivierten Akademiker", der gut verdient und "weiß, was er will". Je höher die Ansprüche, desto größer der Widerspruch: Soll ich mir jemanden suchen und dafür Kompromisse eingehen, oder soll ich den Kompromiss eingehen, niemanden zu haben? Ein alter Volksspruch tröstet damit, dass es Gebundenen genau so geht: "Die Ehe ist wie eine belagerte Burg. Die, die drinnen sind, wollen hinaus, und die, die draußen sind, wollen hinein."

Um das Konfliktpotenzial nicht weiter zu erhöhen, sehnen sich viele Alleinstehende nach Beziehungen ohne Streit. Überhaupt scheint es, als habe die Generation der Mittdreißiger eine Scheu davor, den Partner zu belasten. Die Konfliktbewältigung wird ausgelagert - man geht zum Therapeuten. Denn schließlich weiß man selbst nicht so genau, was man eigentlich will. Die Oma fragt bekümmert, warum man nicht heiratet, und die Mutter stößt seufzend aus: "Genieß’ deine Freiheit, Kind, solange Du kannst."

Trennungsfreudige Eltern

Für unsere Großeltern war klar: "Wir bleiben zusammen. In guten wie in schlechten Zeiten." Auch wenn das hieß, dass es ein Zusammenbleiben auf Biegen und Brechen war und beide Partner darunter litten. Die Elterngeneration der heute Unter-40-Jährigen war schon trennungsfreudiger. Wenngleich ihre Mitglieder mit dieser neuen Erfahrung oft alleine da standen und damit überfordert waren. Sie wollten zwar nicht mehr in einer unglücklichen Beziehung leben, wie jedoch genau die neue Beziehung oder der Umgang mit den Kindern ausschauen sollte, wussten sie kaum.

"Es ist traurig, dass so viele Menschen ihren Partner wie Besitz behandeln, herumkommandieren und zu verformen versuchen. Das kann eine Partnerschaft zur Qual machen", sagt Gabor. Ein Miteinander im traditionellen Sinn wird im Zeitalter der Selbstverwirklichung immer seltener.

Ein Single ist selten allein

Die heutigen Mittdreißiger setzen die Suche nach einer Beziehung zwar fort, aber nicht mehr um jeden Preis. Ein Leben lang im Unglück zusammen - dann wird erst gar nicht mehr geheiratet und wenn doch, dann erst später. Immerhin ist durch die Freiheit der Frau, erst spät Kinder zu bekommen, dem Mann der Druck einer frühen Familiengründung genommen. An die Stelle einer Zweierbeziehung tritt ein gut funktionierendes soziales Netzwerk.

"Liebe Gäste! Unser Hotel ist konzipiert für Singles & Alleinreisende, Freundinnen & Freunde, Seminargäste & Eventveranstaltungen. Wir haben kein Angebot für Pärchen, Familien und Kinder", heißt ein Schild gleich beim Eingang von Europas erstem Singles-Hotel seine Zielgruppe willkommen. Laut Direktor Christian Grünbart ist das Hotel Aviva in Sankt Stefan im Mühlviertel durchschnittlich zu 80 Prozent gebucht. "Wir haben an die 1000 Gäste, die in den vier Jahren unseres Bestehens schon fünf oder sechs Mal da waren."

Die Sehnsucht danach, nicht alleine Abend zu essen oder die Freizeit gemeinsam zu verbringen, ist laut Grünbart die stärkste Motivation, das Hotel zu besuchen. Die meisten Gäste seien um die 40 Jahre alt und nach einer "Karriere von Heirat, Familiengründung und Hausbau" getrennt. Viele seien froh über den Neustart, jedoch sei kaum jemand gerne auf Dauer alleine. Singles sehnen sich nach Kommunikation - und schließlich nach einem neuen Partner: "Nach einer Trennung wird das Single-Dasein als Befreiung erlebt, wenn es zum Dauerzustand wird, jedoch als Mangel."

Abenteuer versus Sicherheit

Die Sehnsucht von Singles nach einem Partner ist unumstritten, selbst wenn sowohl der Mann als auch die Frau die Verantwortung für das eigene Leben übernehmen kann. Für Sarah, 40 Jahre, Unternehmerin aus Wien und Mutter eines sechsjährigen Sohnes, hat das Single-Dasein einerseits Vorteile: "Ich habe mehr lustige Abende, viel flexiblere Freunde." Die Nachteile andererseits: "Manchmal bin ich einsam oder bräuchte jemanden, der bei mir im Haus etwas repariert. Und es fehlt mir jemand, der in allen Lebenslagen für mich da ist und auf den ich mich verlassen kann." Eine neue Beziehung wünscht sie sich allerdings nach ihren Spielregeln: "Die Person darf nicht zu sehr an mir hängen. Wenn er zweimal in der Woche vorbeischaut, reicht das auch", räumt sie ein. Für Magdalena, 36 Jahre, ist Single-Sein ein widersprüchliches Gefühl: "Hat man eine Bindung, ist man unzufrieden und will weg. Hat man keine Bindung, sucht man sie wieder."

Möglicherweise kann ein Single-Leben als Sprungbrett gesehen werden. Und möglicherweise gibt es so viele Singles, weil sie den Sprung in neue Beziehungs- und Lebensformen noch nicht wagen oder keine klare Vorstellung davon haben. Denn im Prinzip bedeutet eine Ehe nicht zwangsläufig, dass man mit dem Partner zusammenwohnen muss. Und Kinder bedeuten nicht zwingend, dass man seine Freiheit zur Gänze aufgeben muss. Das Problem ist nur, dass es wenig Vorbilder für Lebenskonzepte gibt, die den Wunsch nach Freiheit und Bindung gleichermaßen erfüllen.

Wenn Frauen in Berlin eine grüne Schleife an ihren Kinderwagen binden, signalisieren sie nicht nur ihre Suche nach einem neuen Partner, sondern auch nach Lebensfreude. Die sie wohl auch in einer Wohngemeinschaft finden könnten, jenseits alter Modelle. "Denn irgendwann ist man alt", sagt der Soziologe Girtler. Spätestens dann will niemand alleine sein.

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