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Das Phänomen der Gleichzeitigkeit

Von Verena Nowotny und Roland Benedikter

Politik

Das Riesenreich China durchläuft in einem rasanten Tempo parallele und widersprüchliche Entwicklungen. Dabei gilt nicht das westliche Prinzip "Entweder-oder", sondern das chinesische "Sowohl-als-auch".


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Peking/Wien. Mehr als 100 Neuerscheinungen zu China listete der Online-Buchhändler Amazon allein in den vergangenen sechs Monaten auf. Doch Masse bedeutet nicht notgedrungen Vielfalt: über 90 Prozent der Sachbücher über China sind amerikanischer Provenienz; nur wenige europäische Stimmen mischen in diesem Diskurs mit. Auch die thematische Ausrichtung ist eher einseitig: Titel wie "Der große Beutezug" oder "Die gelbe Gefahr" lassen schnell Absicht und Tonalität erahnen. Ein Buch westlicher Autoren über China kann aber wohl nicht mehr - und auch nicht weniger - als eine Annäherung sein: Dies auch deswegen, weil die Entwicklung Chinas in vielen Strängen und vergleichsweise rasant verläuft und daher immer nur Momentaufnahmen zulässt.

Die Einseitigkeit vieler Analysen beruht zudem auf einer zutiefst westlichen Denkungsart: dem "Entweder-oder". Diese Logik lässt letztlich nur Gewinner oder Verlierer übrig: Entweder schotten wir im Westen unsere Märkte gegenüber chinesischen Investoren ab - oder China mit seiner schier unerschöpflichen Kriegskasse von im Mai 2014 mindestens 4 Billionen Euro Barrücklagen wird Europa und die USA nach und nach aufkaufen.

Entweder bewahren wir unseren Einfluss im Rahmen der Weltordnung und dämmen das Reich der Mitte militärisch und diplomatisch ein - oder China wird über kurz oder lang die Welt regieren, wozu es derzeit vor allem aus Sicht der USA mit seiner Expansionspolitik im Chinesischen Meer Anläufe zu nehmen scheint. Entweder kämpfen wir um unsere sozialen Standards und unsere technischen Errungenschaften - oder China wird mittels Industriespionage und schierem Druck der Größe die Welt "sinisieren".

Zensur in den Medien und lebhafte Debatte an den Unis

Doch diese Logik verstellt den Blick auf einen wesentlichen Unterschied zwischen China und dem Westen: in und für China gilt das Prinzip des "Sowohl-als-auch", und damit das Prinzip der Gleichzeitigkeit. Daher kommt es zu so widersprüchlichen Erscheinungen, dass China beispielsweise sowohl der größte Emittent von Treibhausgasen ist, gleichzeitig aber auch zum größten Hersteller und Anwender von Photovoltaikanlagen aufgestiegen ist; dass China weiter an der Sieben-Prozent-Schwelle wächst, gleichzeitig aber wegen sorgloser Kreditvergabe in eine tiefe Binnenverschuldung hineingeraten ist, die das gesamte Bankensystem und damit die Wirtschaft gefährdet; dass der Konsum weiter explodiert, es aber mittlerweile vier Euro Schuldenaufnahme braucht, um einen Euro Gewinn zu generieren, womit die Grenze zur Nichtnachhaltigkeit erreicht ist. Chinas Führung setzt Zensur ein, um unliebsame Meinungsäußerungen zu verbieten, lässt aber gleichzeitig eine intensive und lebendige intellektuelle Debatte vor allem im universitären Bereich über die Zukunft des Landes zu, die man sich in Europa in dieser Breite und Tiefe manchmal wünschen würde.

Chinas finanzielle Ressourcen wirken - angesichts maroder Staatsfinanzen in den USA und ungeliebter Austeritätsprogramme in Europa - geradezu üppig, doch gleichzeitig wird allein für die Urbanisierungsoffensive, die im März dieses Jahres von der Regierung präsentiert wurde, bis 2020 die unvorstellbare Summe von fünf Billionen Euro veranschlagt, die auch chinesische Budgets auf zentraler und lokaler Ebene vor grenzwertige Herausforderungen stellt.

Das Prinzip des "Sowohl-als-auch" führt naturgemäß auch zu Widersprüchen und Problemen, die das "Entweder-oder" des Westens nicht kennt. Besonders deutlich zeigt sich dies beim Thema Rechtsstaatlichkeit, das beim Dritten Plenum des 18. Zentralkomitees der Kommunistischen Partei im November 2013 eines der Schwerpunktthemen der Reformagenda war.

Chinas Präsident Xi Jinping hatte davor in Reden erläutert, was er unter Rechtsstaatlichkeit versteht: Die "chinesischen Charakteristika" müssten berücksichtigt werden, gleichzeitig müsse Rechtsstaatlichkeit "umfassend" gelten. Es soll also sowohl die Rechtsstaatlichkeit verbessert werden, aber gleichzeitig auch das Primat der Kommunistischen Partei über das Recht und den Staat gewahrt bleiben. Ein markanter Widerspruch zum westlichen Verständnis, das Rechtsstaatlichkeit nur bei ausnahmsloser Anwendung auf alle gesellschaftlichen Akteure als gegeben ansieht.

Die Urbanisierung soll den Konsum ankurbeln

Die Komplexität der Entwicklung lässt sich eindrucksvoll anhand der Urbanisierungsbemühungen Chinas demonstrieren, in deren Rahmen bis 2020 250 Millionen Menschen von Staats wegen vom Land in zum Teil neu zu gründende Städte transferiert werden sollen. Der Grund für die enorme Umsiedlungsoffensive liegt in der nicht unberechtigten Erwartung der Regierung, dass Stadtbewohner mehr konsumieren und damit endlich Chinas Exportabhängigkeit durch stärkeren Binnenkonsum entschärfen und gleichzeitig das Wachstum ankurbeln.

Das Tempo, mit dem die Volksrepublik diese Entwicklung vollzieht, ist geradezu atemberaubend: Erst 2010 überschritt die Stadtbevölkerung in China mit 670 Millionen die 50 Prozent-Marke - 1980 lag die Urbanisierungsquote noch bei 14 Prozent. Die USA benötigten im Vergleich 60 Jahre und Westeuropa gar 100 Jahre, um eine derartige Entwicklung zu vollziehen.

Doch Chinesen vom Land in die Stadt zu bringen, ist ein schwieriges Unterfangen: In diesem Prozess geht es nicht nur um Nutzungs- und Eigentumsrechte von Land und die entsprechenden Ablösen. Es geht auch um die jetzigen Grundfesten des Sozialsystems, den sogenannten "Hukou", eine Art Meldezettel, der ortsgebunden ist, aber Voraussetzung für Sozialleistungen aller Art ist, etwa auch den Besuch einer öffentlichen Schule. Die tatsächliche Integration der ländlichen Bevölkerung werde nur gelingen, wenn auch das Hukou-System grundlegend reformiert werde, betont der auf Stadt-Land-Entwicklung spezialisierte Professor Feng Xingyuan von der Chinese Academy of Social Sciences: "Die zweite Generation der Migranten, die jetzt in Städten aufwachsen, aber keinerlei Teilhabe genießen, ist eine tickende Zeitbombe." Bislang habe die politische Führung in China es zwar geschafft, Urbanisierung ohne Slums zu bewerkstelligen - doch die sozialen Spannungen werden dennoch zunehmend größer.

Über allen Reformbemühungen und geplanten Entwicklungsschüben schwebt die allgegenwärtige Korruption wie ein Damoklesschwert. Präsident Xi Jinping gelobte öffentlich, weder "Fliegen" noch "Tiger" - also weder "kleine" noch "große" Funktionäre - ungeschoren zu lassen, die sich der Korruption schuldig gemacht hatten. Im April 2014 wurden vom bisher höchstrangigen der Korruption angeklagten Politfunktionär seit der Gründung der Volksrepublik China 1949, Zhou Yongkang, Mitglied des innersten Führungszirkels der Kommunistischen Partei, und seiner Familie 14,5 Milliarden Dollar beschlagnahmt. In seiner Funktion verdiente Zhou offiziell 12.000 Dollar pro Jahr. Gerüchten zufolge steht er unter "informellem Hausarrest". Nun werden laufend Ermittlungen gegen weitere Mitglieder des Netzwerkes rund um Zhou Yongkang erhoben, jüngst etwa gegen Song Lin, Chef von China Resources, dem größten Rohstoff- und Industriekonglomerat.

Doch Präsident Xi hat viele Baustellen, vielleicht zu viele auch für eine Regierung hochgebildeter und weltgewandter Eliten. Ethnische Spannungen entladen sich neuerdings in ungewohnter Brutalität, wie das Massaker von Kunming in der Provinz Yünnan am 1. März 2014 zeigte, als zehn mit Messern bewaffnete Männer am Bahnhof ein Blutbad anrichteten, das 33 Tote und etwa 130 Verletzte forderte. Doch selbst in diesem Kontext gilt das "Sowohl-als-auch": Nach dem Attentat verlautbarte das offizielle China rasch, dass die Chinesen - auch wenn die Bluttat Uighuren aus der nordwestlichen Provinz Xinjiang angelastet wurde - Muslimen dennoch nicht generell mit Misstrauen gegenübertreten sollten.

Europa sollte die Volksrepublik differenzierter betrachten

Die Zahl der Handlungsstränge, die Gleichzeitigkeit der Entwicklungen und die Vereinbarkeit von Widersprüchlichem, die nicht zuletzt in Chinas "historischer Weltmeisterschaft in der Trauma-Bewältigung" (Paul Unschuld) liegen, lassen die Demut, die John F. Kennedy bereits 1957 in einem Artikel für das Magazin "Foreign Policy" anklingen ließ, nach wie vor als berechtigt erscheinen: "Wir sollten uns hüten, uns im Umgang mit China politisch eine Zwangsjacke umzulegen - aus Unkenntnis über die Hintergründe, und weil wir die Veränderung der Situation nicht ausreichend mitvollziehen." Wir Europäer sollten mehr und differenzierteren Anteil an den Problemen und der Entwicklung des Riesenreichs nehmen - in unserem eigenen Interesse.

Zu den Personen

Roland Benedikter

ist Research Scholar an der University of California und gemeinsam mit Verena Nowotny Autor von "China. Situation und Perspektiven des neuen weltpolitischen Akteurs" (Springer).

Verena Nowotny

ist Partnerin bei Gaisberg Consulting und war davor Pressesprecherin des früheren Kanzlers Wolfgang Schüssel und danach bis 2011 in Shanghai und New York tätig.