Steigenden Kosten, weniger Beiträge: Die Krankenversorgung steckt im Dilemma. | Zur langfristigen Sicherung müsste ein rigoroses Umdenken stattfinden. | Änderungen der Beitragssysteme oder gar Verstaatlichung | wären Lösungen. | Wien . Die gesundheitspolitische Reformdiskussion wird uns trotz der aktuellen Reform (Einführung der Gesundheitsplattformen) auch weiterhin intensiv beschäftigen: Wenn Österreich eine langfristig gesicherte und funktionierende soziale Krankenversorgung haben will, dann müssen die bestehenden Strukturen des Gesundheitssystems von Grund auf geändert werden, Verwaltungsreformen wie die Etablierung von neuen Administrationsapparaten helfen hier wenig.
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Wien . Die gesundheitspolitische Reformdiskussion wird uns trotz der aktuellen Reform (Einführung der Gesundheitsplattformen) auch weiterhin intensiv beschäftigen: Wenn Österreich eine langfristig gesicherte und funktionierende soziale Krankenversorgung haben will, dann müssen die bestehenden Strukturen des Gesundheitssystems von Grund auf geändert werden, Verwaltungsreformen wie die Etablierung von neuen Administrationsapparaten helfen hier wenig.
Das derzeitige Gefüge des österreichischen Gesundheitswesens als einerseits durch Beitragssysteme und andererseits durch öffentliche Gelder finanziertes Konstrukt ist nämlich nur mehr befristet funktionstüchtig. Folgende, dem System innewohnende und gleichzeitig das System bedrohende Zwangslagen sind letzten Endes ohne echte Strukturänderung unlösbar:
Beitrags-Dilemma
Öffentliche Krankenversicherungssysteme, deren Finanzierung durch an den Arbeitslohn gekoppelte Beiträge gewährleistet wird, sind naturgemäß von der Zahl der Erwerbstätigen abhängig. Immer mehr Pensionisten bei gleichbleibender bzw. sinkender Erwerbstätigenzahl (Arbeitslosigkeit!) bedingen in diesen Systemen auf längere Sicht eine prekäre Zunahme der heute schon drängenden Finanzprobleme. Eine jeweils nur kurzfristig wirksame Bekämpfung der Geldnöte ist ausschließlich durch ständige Beitragserhöhungen, steigende Selbstbehalte und/oder Leistungsreduktionen möglich. Fortwährende Erweiterungen und Neuerungen in Diagnose und Therapie bewirken eine stetige Kostensteigerung für medizinische Leistungen. Die Beitragssysteme geraten dadurch in eine doppelte Zwickmühle: Hier die permanent wachsenden Kosten, dort die stagnierende Menge von Beitragszahlern. Zwangsweise muss dies ebenfalls zu laufenden Beitragserhöhungen, Selbstbehalten bzw. Rationierungen führen.
Wer länger lebt, braucht mehr Medizin. Bei steigender Lebenserwartung nimmt die Zahl von medizinischen Interventionen bei chronisch Kranken und Pflegebedürftigen zu. Der zunehmende Versorgungsbedarf im Alter bringt eine weitere empfindliche Kostensteigerung für das System und führt daher ebenso zu Beitragserhöhungen, wachsenden Selbstbehalten und/oder Rationierungen.
Betten-Dilemma
Die hierzulande auffallend hohe Spitalsbettenzahl ist ein österreichisches Spezifikum, das die o.e. europaweit zu beobachtenden kostentreibenden Phänomene "Alterung" u. "Teuerung durch Fortschritt" noch zusätzlich kompliziert. Die Spitäler werden zum überwiegenden Teil ohne Limitierung aus Steuermitteln finanziert, die Beiträge der Kassen zur stationären Medizin sind hingegen gedeckelt. Eine deutliche Reduktion der Betten bzw. die Angleichung der Bettenzahl an den EU-Schnitt würde zu einer Vermehrung von ambulanten Leistungen führen, welche wiederum die ohnehin schon in der Finanzmisere befindlichen Kassen bezahlen müssten. Ambulante Medizin ist zwar den meisten Studien zufolge insgesamt billiger, für die Beitragssysteme wäre aber eine Bettenreduktion durch die unweigerlich entstehenden ambulanten Mehrkosten schlichtweg katastrophal. Bedingt durch die mehrgleisige und intransparente Finanzierungsstruktur im Gesundheitswesen wird der Ball hier zwischen den Finanziers hin und hergeschoben, es gibt aus strukturellen Gründen keinen Druck und keine Anreize für effiziente Maßnahmen. Für die Kassen sind aufgrund der Deckelung die stationären Patienten die günstigeren, Reduktionen von überzähligen Spitalsbetten liegen daher nicht im Interesse der Sozialversicherer. Unterm Strich bleibt die Bezahlung der Kosten für die überflüssigen Strukturen aber jedenfalls dem Bürger.
Gibt es Lösungen?
Die grundsätzlichen Ideen gibt es, sie gelangten aber bisher noch nicht in die öffentliche Diskussion, da sie politisch als zu unattraktiv bzw. die erwarteten Widerstände von Ländern und Körperschaften als zu groß eingeschätzt werden. Folgende strukturelle Lösungsmodelle werden in Expertenkreisen erörtert. In Deutschland ist dieses Thema durch die dortigen Kommissionen (Rürupbzw. Herzog) zur Reform des Gesundheitssystems bereits in die politische Debatte eingedrungen, bei uns wird es noch kaum besprochen: der Ersatz der einkommensabhängigen Beitragszahlungen durch sogenannte Gesundheitsprämien. Das würde bedeuten, dass jeder Einzelne einen einheitlichen, festgesetzten Betrag pro Monat für die Gesundheitsversorgung bezahlt. (In Österreich wären dies nach aktuellen Berechnungen etwa 220 Euro pro Kopf und Monat). Ausgenommen wären Bedürftige und Kinder, ihre Versorgung würde über Steuermittel mitfinanziert.
Vorteile dieses Fixprämiensystems: Unabhängigkeit von der Erwerbstätigkeit, garantierte gleiche Bedingungen für alle, Förderung der verfassungsgemäßen Gleichheit des Einzelnen durch gleiche Prämie und gleiche Leistung. Nachteil: von vielen Politikern wird eine solche Reform als zu radikal und nach den Jahrzehnten des vielzitierten "überbordenden Sozialstaats" als nahezu überfallsartig empfunden.
Als Alternative zum Gesundheitsprämien-System wird in Deutschland daher die sogenannte Bürgerversicherung diskutiert. Nach dieser Idee sollen ausnahmslos alle Bürger (inklusive Beamte, Freiberufler etc.) in einem einheitlichen Versicherungssystem ihre je nach persönlicher wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit festzusetzenden Beiträge bezahlen. Von den Befürwortern wird diese Variante als sozial gerechter und politisch leichter umsetzbar empfunden als die Gesundheitsprämien.
Verstaatlichung
Vom Gros der Gesundheitspolitiker und medizinischen Akteure nahezu verfemt und daher kaum in politischer Diskussion, ist ein gänzlich über Steuermittel finanziertes öffentliches System doch eine rationale Betrachtung wert: staatliche Gesundheitssysteme anstelle von Beitragssystemen haben den Vorteil, gleiche Gültigkeit für alle Bürger zu besitzen, sie sind zentral steuerbar und relativ gut budgetierbar (was Beitragssysteme weder noch sind). Föderalismusbedingte Partikular-Interessen sind ebenfalls besser zu managen.
Grundleistungskatalog
Möglich sind hier beispielsweise staatliche Systeme mit garantierter Risiko-Abdeckung für Alle über einen Grundleistungskatalog, die durchaus auch einen freien privatmedizinischen Markt (der ohnehin neben allen öffentlichen Gesundheitssystemen der westlichen Welt existiert) zulassen oder sogar befördern. Die prinzipiellen Nachteile verstaatlichter Systeme sind hinreichend bekannt, ein staatliches Gesundheitssystem muss aber bei entsprechender Gestaltung nicht zwangsläufig alt-sowjetischen Strukturen ähneln. Europäische Beispiele für die vergleichsweise hohe und alle Beteiligten zufriedenstellende Funktionstüchtigkeit eines solchen Systems gibt es (siehe zum Beispiel Finnland).
Resümee: Solange sich die Politik nicht ans "Eingemachte" wagt und einen echten fundamentalen Umbau des Systems beginnt, wird eine dauerhafte Lösung der Problematik nicht möglich sein.
Der Autor ist Facharzt für Innere Medizin in Wien.