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Das Quadrilemma der Gaslieferungen aus Russland

Von Alfred Schuch

Gastkommentare
Alfred Schuch hat bis vor kurzem ein Pipeline-Projekt durchs Kaspische Meer in Zusammenarbeit mit der EU-Kommission beraten. Davor war er unter anderem für die Österreichische Energieagentur sowie die E-Control tätig, auch auf EU-Ebene, und hat als Abteilungsleiter der Hydrocarbons Unit mitgeholfen, das Sekretariat der Energiegemeinschaft in einem multikulturellen Umfeld zum Laufen zu bringen.
© privat

Österreich und die EU haben mehrere Optionen - jede hat ihre Nachteile.


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Anscheinend bedingt durch die derzeit moderaten Erdgaspreise - obwohl diese noch immer etwa doppelt so hoch sind wie Anfang 2021 - und die vollen Gasspeicher (zu einem großen Teil bedingt durch den bisher sehr warmen Winter), wird der Ruf nach Reduktion der Gaslieferungen aus Russland laut - zumindest aus einigen Kreisen. Könnte diese - teils emotional erhobene - Forderung ohne Embargo auch tatsächlich sinnvoll umgesetzt werden oder handelt es sich um politisch motivierte Statements ohne vollständige Analyse der voraussichtlichen Konsequenzen?

Im Jahr 2021 wurden aus Russland rund 150 Milliarden Normkubikmeter mittels Rohrleitungen und etwa 13 Milliarden Kubikmeter mittels Flüssiggas (LNG) in die EU importiert, bei einem Gesamtverbrauch von gut 412 Milliarden Kubikmeter. Der Anteil aus Russland am EU-Gesamtverbrauch entsprach 2021 somit knapp 40 Prozent. Im Jahr 2022 gingen die Gasimporte aus Russland durch Pipelines auf 61 bis 65 Milliarden Kubikmeter zurück, während die LNG-Importe auf 19 Milliarden Kubikmeter anstiegen. Der Gesamtverbrauch der EU betrug 2022 rund 365 Milliarden Kubikmeter - der Anteil aus Russland betrug somit etwa 22 Prozent.

Nach der Explosion der Pipelines Nord Stream 1 und 2 (ein Strang wurde nicht beschädigt) fiel die russische Importmenge dramatisch - aufs Jahr hochgerechnet entsprächen diese Mengen 29 Milliarden Kubikmeter - somit einem Anteil von 8 Prozent. Mit dieser Menge, die auch derzeit anteilig geliefert wird, kämen - auf das Gesamtjahr 2023 hochgerechnet - weiterhin 25 bis 30 Milliarden Kubikmeter aus Russland in die EU.

Diese Menge, der voraussichtlich sehr hohe Speicherfüllstand zum Winterende, eine bedeutende Steigerung der LNG-Importe und die sehr hohe Auslastung der norwegischen und algerischen Produktion (samt Transport) ermöglichen es der EU, die Gasspeicher für den nächsten Winter zu 90 Prozent zu befüllen und ihn in weiterer Folge unbeschadet zu überstehen - bei moderaten Gaspreisen. Auch ohne Gaslieferungen aus Russland wäre es möglich, den Winter 2023/2024 zu überstehen, aber zu höheren Gaspreisen und unter der Voraussetzung von bedeutenden Verbrauchseinsparungen seitens der Industrie, des Gewerbes und der Haushalte.

Die Rohrleitungen aus Norwegen wurden 2022 mit der maximal möglichen Transportmenge beaufschlagt - dies ist auch für heuer so angedacht. Norwegen ist auch mit gut 124 Milliarden Kubikmeter pro Jahr bereits am Anschlag - mehr Kapazität ist einfach nicht vorhanden. Um aus Norwegen mehr Erdgas nach Österreich transportieren zu können, müsste man Transportkapazität nach Österreich von anderen Shippern kaufen - so dies überhaupt möglich ist. Zudem wäre Erdgas aus der norwegischen Produktion von anderen Verbrauchern nach Österreich umzulenken - dies dürfte in der angespannten Situation nicht einfach sein.

Versorgungslage wird sich ab 2024 entspannen

Ab dem Jahr 2024 wird sich - aufgrund von zusätzlichen Kapazitäten von Erneuerbaren, die Erdgas bei Stromproduktion und Raumwärme (über Wärmepumpen) zunehmend ersetzen, sowie von drei zusätzlichen Regasifizierungsanlagen in Deutschland - die Versorgungslage deutlich entspannen. Daher wäre es zielführend das, überspitzt formuliert, derzeitige Quadrilemma der Gaslieferungen aus Russland transparent zu diskutieren:

Entscheidet man sich für die Option "Minimale Menge", die auch null sein kann, werden die Erlöse für Russland minimiert beziehungsweise ganz eingestellt - ein Versuch, die finanzielle Basis des Ukraine-Krieges zu schmälern, um die Gräuel zu beenden.

Falls die Entscheidung "Maximal erhältliche Menge" lautet, wird wahrscheinlich die Versorgungssicherheit erhöht, die Preise könnten - aus jetziger Sicht - auf ein moderates Niveau sinken, die Wettbewerbsstärke der österreichischen Wirtschaft steigen, die erforderlichen Subventionen für Teile der Verbraucher reduziert werden.

Die Option "Treibhausgasemissionen" versucht, aus der Klimaschutzperspektive, die schädlichen Emissionen unter Einbeziehung wirtschaftlicher Kriterien soweit möglich zu senken. In anderen Worten: Man versucht, russisches Gas durch Kohle, Öl und LNG zu ersetzen - im Wissen, dass dadurch die Treibhausgasemissionen weiter steigen (bei LNG ist das Boil-off-Gas kritisch).

Die Option "Vertragstreue" versucht, bei Ausbleiben eines Gasembargos, die enormen finanziellen Risiken der durch die Abnehmer abgeschlossenen langfristigen Verträge, die nach Kriegsende eventuell schlagend werden könnten, aus dem Blickwinkel der Vertragsklauseln "Take or pay" beziehungsweise "Deliver or pay" abzuwägen. "Take or pay" bedeutet, dass bei Bereitstellung der vertraglichen Abnahmemengen durch Russland und bei Verweigerung der Abnahme derselben der Abnehmer in gewissem Ausmaß zu bezahlen hätte. Hier könnte es sich in Österreich, beim aktuellen Gaspreis, um etwa 2 Milliarden Euro pro Jahr handeln. Zieht man den Durchschnittspreis des Jahres 2022 heran, wären es mehr als 5 Milliarden Euro. Ohne ein verhängtes Embargo stellt sich die Frage, wer dem Abnehmer die Vertragsstrafe bezahlen würde, weil sich dieser ja die Mengen woanders beschaffen müsste, so diese überhaupt derzeit verfügbar wären, andererseits aber auch an Russland zahlen müsste - also doppelt bezahlen würde. Auch könnte die "Deliver or pay"-Klausel - falls vertraglich vereinbart - wirksam werden, sollte Russland dem Abnehmer nicht die vereinbarten Mengen liefern, sodass dieser die Mengen woanders erstehen müsste, aber dafür von Russland Schadenersatz vor dem vereinbarten Schiedsgericht fordern könnte - mit all den Risiken, die so ein Schritt bedingen würde. Es ist wahrscheinlich, dass "Deliver or pay"-Klauseln in den "Sales and Purchase"-Agreements enthalten sind, weil sowohl Vorstand als auch Aufsichtsrat einem Vertrag ohne "Deliver or pay"-Klauseln nicht zustimmen würden beziehungsweise dürften. Es könnte passieren, dass die Aktionäre die Geltendmachung der "Deliver or pay"-Klausel nach Kriegsende einfordern.

Weniger Abhängigkeit von russischem Gas

Man sieht, dass jede der Optionen Unerwünschtes nach sich zieht. Dies trotz des Hintergrunds, dass die EU die Abhängigkeit vom russischen Gas von 40 Prozent im Jahr 2021 auf 22 Prozent im Jahr 2022 reduziert hat, während Österreichs Abhängigkeit im selben Zeitraum von etwa 80 auf 50 Prozent zurückgegangen ist. Ebenso ist zu bedenken, dass Russland schon jetzt - bei zukünftiger Einrichtung eines türkischen Erdgashubs noch stärker - die Möglichkeit hat, beträchtliche Mengen seines Gases über die Türkei, wo es sich mit Gas aus Aserbaidschan, LNG und Inlandsproduktion vermischt und daher nicht leicht identifiziert werden kann, in die EU abzusetzen. De facto kann auch China durch eine Erhöhung von Bezugsmengen aus Russland LNG-Tanker, die für die Volksrepublik vorgesehen sind, in die EU umleiten und somit indirekt russisches Gas verkaufen.

Vor diesen Hintergründen sollte man etwaige Profilierungsversuche hintanstellen und versuchen, miteinander eine umfassende Betrachtung durchzuführen.