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Das Rätsel der tiefen Wolken

Von Andreas Lorenz-Meyer

Reflexionen

Der UN-Klimarat (IPCC) hat im September den ersten Teil seines 5. Sachstandsberichts veröffentlicht. Dieser ist in seinen Aussagen präziser als der Vorgänger. Aber ein paar Faktoren im Erdsystem sind immer noch undurchschaubar.


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Im Mai meldete die amerikanische Ozean- und Atmosphärenbehörde einen Rekord: Die Kohlendioxid-Konzentration in der Erdatmosphäre hatte 400 ppm (parts per million) überschritten. Zuletzt war im Pliozän so viel vom Treibhausgas in der Atmosphäre, später bewegte sich die Konzentration fast eine Million Jahre zwischen moderaten 180 und 280 ppm.

Genauere Messdaten

"Die Klimaänderung ist immer noch eindeutig", sagt Reto Knutti von der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich (ETHZ), einer der Hauptautoren des 5. Sachstandsberichts. Die Forscher haben jetzt genauere und längere Messdaten - aus der Atmosphäre, aus dem Meereis, aus den Ozeanen, aus den Gletschern. Mit diesen Daten kann die momentane Erwärmung besser von natürlichen Temperaturschwankungen unterschieden werden. Daher konstatiert der Bericht: Die Hauptschuld am Klimawandel trägt mit 95-prozentiger Sicherheit der Mensch.

In dem Bericht ist auch zu lesen, wie stark die Temperatur bis 2100 ansteigt: bestenfalls um 0,3 bis 1,7 Grad, schlimmstenfalls um 2,6 bis 4,8 Grad. Dieser eigentlich schleichende Prozess kann auch in Sekunden ablaufen - zumindest in den Animationen der Forschungsinstitute. Die kurzen Filmchen zeigen einen sich langsam drehenden Globus, am unteren Bildrand schlagen Jahreszahlen um: 2030, 2050, 2070. Rote Flächen, die besonders starken Temperaturerhöhungen, breiten sich über den Planeten aus - und bedecken ihn schließlich ganz.

So muss es aber nicht kommen. Denn Klimaforscher machen keine Vorhersagen, sondern zeigen mögliche Entwicklungen auf. Die nennen sich Klimaszenarien und basieren auf einer ganz bestimmten Annahme. Zum Beispiel: Die Menschheit reißt sich zusammen und setzt ganz auf Wind- und Sonnenenergie. RCP 2.6 (Repräsentativer Konzentrationspfad) heißt das entsprechende Szenario. RCP 2.6 geht von weniger Treibhausgasemissionen aus, es steht sozusagen für die Vernunft. RCP 4.5 ist eher ein Mittelding: Die Emissionen werden nur halbherzig reduziert, folglich steigt die CO2-Konzentration auf 650 ppm. Schließlich RCP 8.5, die pessimistische Variante: Wegen zunehmender Emissionen erreicht die CO2-Konzentration 1370 ppm - mehr als das Dreifache von heute.

Komplexe Fragen

Schwer zu sagen, welches Szenario am wahrscheinlichsten ist, sagt Knutti. Menschliches Handeln ließe sich eben nicht voraussagen. Dennoch lägen die Trends nahe am obersten Szenario, RCP 8.5. Knutti: "Wenn es so weitergeht, dann erwartet uns eine Temperaturerhöhung von vier Grad. Wir können aber auch bei nur zwei Grad landen. Es ist letztlich unsere Wahl."

Was bei diesen Szenarien nicht übersehen werden darf: Das Erdsystem ist unheimlich komplex, einige Faktoren werden momentan noch nicht durchschaut. Zum Beispiel die physikalischen Prozesse, die in Wolken ablaufen. Sie sind an Komplexität kaum zu überbieten. Ein ganzer Haufen von Faktoren muss berechnet werden, unter anderem das Volumen und die Höhe der Wolken.

Um die globale Bewölkung zu beobachten, werden Satelliten benötigt. Die gibt es aber erst seit 30 Jahren, sodass es an Langzeitdaten fehlt. Auch ist die Interpretation von Satellitendaten immer noch mit Unsicherheiten behaftet. Zum Beispiel die Bestimmung der Tropfengröße, die sich im Mikrometerbereich bewegen.

Im 5. Sachstandsbericht bekommen die Wolken ein eigenes Kapitel. Schließlich werden sie als größter Unsicherheitsfaktor in der Klimawissenschaft gesehen. Einerseits stoppen sie Sonneneinstrahlung - ein kühlender Effekt. Andererseits halten sie Wärmestrahlung in der Atmosphäre - ein wärmender Effekt. Aber welcher Effekt überwiegt?

Wolkentypen

Dafür muss geklärt werden, welche Wolkentypen in Zukunft dominieren, sagt Ulrike Lohmann von der ETHZ. Hohe Schleierwolken etwa verstärken die Erwärmung. Sie lassen ankommendes Sonnenlicht durch und halten einen Großteil der ausstrahlenden Wärme zurück - wie Treibhausgase. Lohmann verkündet schlechte Nachrichten: Besonders Schleierwolken nehmen zu, sodass der wärmende Effekt überwiegt.

Tief liegende Stratuswolken wirken dagegen kühlend. Das Gewölk schickt die Sonneneinstrahlung zurück in den Weltraum. Aber es ist noch unklar, wie sich die tiefen Wolken verhalten. Die Szenarien variieren in diesem bedeutenden Punkt. Denn gäbe es eindeutige Tiefwolken-Trends, könnten die Forscher genauer sagen, wie warm es wird. Momentan ist die Spannbreite noch sehr groß. Verdoppeln sich zum Beispiel die Treibhausgasemissionen, dann wird es zwischen 2 und 4,5 Grad wärmer. "Etwa ein Drittel dieser Spannbreite geht auf Wolken zurück", sagt Lohmann.

Frank Stratmann vom Leibniz-Institut für Troposphärenforschung in Leipzig untersucht die Rolle von Aerosolpartikeln, kleinen Schwebeteilchen, welche die Wolkenbildung beeinflussen. Sie gelangen zum einen auf natürlichem Wege in die Atmosphäre, etwa wenn ein Sandsturm tonnenweise Staub aufwirbelt.

Aber auch der Mensch produziert Aerosolpartikel, indem er in Kraftwerken fossile Brennstoffe verbrennt. Stratmann: "Dabei wird Schwefeldioxid zu Schwefelsäure umgewandelt, ein gasförmiger Vorläufer der Aerosole."

Würden Wind- und Sonnenenergie stärker genutzt, fiele die Prognose günstiger aus.
© Foto: ImWind

Unterm Strich haben Aerosole einen kühlenden Effekt aufs Klima, sagt der Forscher. Zum einen streuen sie solare Strahlung, wodurch weniger Sonnenenergie zum Boden gelangt. Die Bewohner chinesischer Städte kennen den Effekt nur zu gut: Vor lauter Verschmutzung ist die Sonne kaum zu sehen.

Zum anderen bilden sich aus Aerosolen winzige Wolkentröpfchen - die Bestandteile von Wolken. Erhöht sich die Anzahl dieser Tropfen, weil der Mensch fleißig Schwebeteilchen produziert, dann bestehen die Wolken aus mehr und kleineren Tröpfchen. Was die kühlende Wirkung von Wolken verstärkt, wie Stratmann erklärt: "Mehr kleine Tropfen reflektieren mehr Licht als weniger große."

Unberechenbares Eis

Nach dem 5. Sachstandsbericht könnte der Meeresspiegel um 26 bis 82 Zentimeter steigen - ein um ein Drittel höherer Anstieg als bisher angenommen. Dabei spielen die Eismassen der Erde eine große Rolle. Auch sie gelten als unberechenbar. Kalbt ein Eisberg, können ganz schnell große Mengen im Meer landen. Der Boden muss nur eine geeignete Wassergleitschicht besitzen. Bricht der Schelf dann vorne ab, fließen die Eisströme dahinter plötzlich sehr schnell. Wie bei Larsen-B. Der antarktische Eisschelf hielt sich mindestens 10.000 Jahre lang, 2002 dann verlor er in kurzer Zeit über 3000 Quadratkilometer seiner Masse. Heute sind von Larsen-B nur noch 1670 Quadratkilometer übrig - 15 Prozent der Ursprungsmasse.

Momentan wachsen Grönland und die Antarktis in der Mitte. Aber deswegen gibt es keinen Grund zur Entwarnung. Denn die Verluste an den Rändern sind viel größer als der Zuwachs im Zentrum. Die Eismassen schrumpfen also insgesamt. Wie schnell dieser Prozess vorangeht, weiß derzeit keiner. Nur die Folgen können eingeschätzt werden. Verschwände das Grönlandeis, stiege der Meeresspiegel um etwa sechs Meter an. Und die Antarktis käme auf unglaubliche 60 Meter.

Die Unsicherheiten betreffen auch sogenannte tipping points. Wird einer dieser Kipp-Punkte erreicht, dann beschleunigt sich der Klimawandel - fast von einem Moment auf den anderen. Der Amazonas-Regenwald etwa. Wird aus der CO2-Senke plötzlich ein CO2-Produzent? Oder das Methan im Permafrostboden. Kann sich das Treibhausgas - 23 Mal klimawirksamer als CO2 - aus dem Eisboden befreien?

Wenn die Staatengemeinschaft im November wieder zusammentrifft, um einen globalen Klimaschutzplan zu schmieden, liegen auch die RCP-Szenarien auf dem Verhandlungstisch. Kein Zweifel: Die Klimawissenschaft ist stark politisiert. Dabei soll sie in "die Klimafalle" geraten sein, behauptet ein gleichnamiges Buch, in dem der Forschung eine handfeste Glaubwürdigkeitskrise attestiert wird. Sie hätte "sich zu sehr mit der Politik gemein gemacht" und werde "im Spiel der Interessen zerrieben".

Das Buch stammt nicht etwa von einem Vertreter der Klimaskeptiker, die bestreiten, dass die Erwärmung vom Menschen verursacht wird. Geschrieben hat es Hans von Storch, ein renommierter Forscher aus Deutschland. In seinen Augen handelt es sich bei der Produktion von wissenschaftlichem Wissen um einen sozialen Prozess - mit allen Fehlern, die dabei passieren können. Der Autor gibt ein Beispiel. Im 4. Sachstandsbericht von 2007 stand, dass die Himalaya-Gletscher bis 2035 von 500.000 auf 100.000 Quadratkilometer schrumpfen. Korrekt hätte es 2350 heißen müssen - ein peinlicher Schreibfehler. Aber dem Kapitel 10.6.2 hätte auch mit korrekter Jahreszahl die wissenschaftliche Grundlage gefehlt, erklärt von Storch in seinem Buch. Reto Knutti nimmt dazu Stellung: "Sicher haben einige Fehler gemacht, und das hat der Glaubwürdigkeit vielleicht auch geschadet. Aber wir wären heute auch nicht weiter, wenn die Klimawissenschaft alles richtig gemacht hätte."

Den eigentlichen Knackpunkt sieht Knutti im egoistischen und kurzfristigen Denken. Politiker stritten sich über die Physik des Klimas, aber in Wahrheit ginge es um Geld und Macht und Interessen. Vor allem die USA und China blockierten sich gegenseitig. Niemand zeige Bereitschaft, für andere etwas zu tun - oder für das Klima im nächsten Jahrhundert. Leider sei es naiv zu glauben, dass aus genügend Fakten zwingend eine Handlung folgen muss.

Wo Knutti mit seinem deutschen Kollegen übereinstimmt: Der Dialog zwischen Wissenschaft und Gesellschaft muss überdacht werden. Eine schwierige Aufgabe, denn "der Klimawandel ist ein Knäuel von Ursache und Wirkung, der keine offensichtliche Lösung ohne Nachteile bietet." Dies der Öffentlichkeit zu erklären sei eine Herausforderung - wahrscheinlich eine größere als die Entwicklung des nächsten Klimamodells.

Die Wissenschaft muss Unsicherheiten klar aufzeigen, meint Knutti. Und die Gesellschaft im Gegenzug differenzierte Aussagen akzeptieren. Oft hielten diese als Ausrede her, aber der Mensch sei es doch gewohnt, mit Unsicherheiten umzugehen, ob er nun Aktien kauft oder heiratet. Knutti: "Wir sind zu über 90 Prozent sicher, dass der Mensch den Klimawandel maßgeblich verursacht. Mehr Sicherheit braucht es nicht, um endlich zu handeln."

Ergebnisse müssten dabei immer als Zwischenstände verstanden werden. Es sei unsinnig zu glauben, dass wir uns jetzt auf eine Strategie einigen und diese dann hundert Jahre stur verfolgen. Entscheidungen müssten laufend überdacht werden.

Was auch für das Zwei-Grad-Ziel gilt, dass sich die internationale Klimapolitik gesetzt hat. Zwei Grad bedeutet: Die Erwärmung darf nicht über zwei Grad hinausgehen. Der UN-Klimarat hat diese Parole aber nie ausgegeben. Zwei Grad seien auch kein wissenschaftliches Ziel, sagt Knutti: "Wir können die Folgen einer Erwärmung von zwei Grad bestimmen, nicht aber der internationalen Klimapolitik das richtige Ziel vorgeben."

Einfluss von El Niño

Reto Knutti ist ein Hauptautor des neuen Berichts.
© Foto: ETH Zürich

El Niño - das Weihnachtskind - erscheint immer zum Ende des Jahres. Die Erwärmung des tropischen Westpazifiks löst eine Reihe von Extremwetterereignissen aus: Starkregenfälle in Indonesien oder Dürreperioden in Australien. Dabei folgt auf El Niño stets sein Gegenstück, La Niña, eine vorübergehende Kaltphase.

Eine internationale Forschergruppe wollte herausfinden, ob El Niño durch den Klimawandel beeinflusst wird. Weil die Temperaturdaten aus dem Ozean nicht weit genug zurückreichen, untersuchten sie Bäume aus sieben Regionen. Anhand der Dicke der Jahresringe wollten sie sehen, wie häufig El Niño in den letzten 700 Jahren auftrat und wie stark er war. Die Schwankungen zwischen El Niño und El Niña waren über einen Zeitraum von 600 Jahren zufällig verteilt. Dann im 20. Jahrhundert veränderten sich die Jahresringe plötzlich, der Wechsel zwischen Kalt und Warm nahm an Heftigkeit zu. Was die Forscher so deuten: Der Klimawandel verstärkt El Niño.

Um sich gegen die in Zukunft vielleicht noch verheerenderen Auswirkungen von El Niño zu wappnen, brauchen die betroffenen Regionen so viel Vorlaufzeit wie möglich. Verlässlich vorhersagen ließ sich das Klimaphänomen bislang nur für sechs Monate. Jetzt aber verspricht eine Forschergruppe, den Zeitraum auf ein Jahr auszudehnen. Damit lassen sich die schlimmsten Schäden wie etwa Missernten verhindern, heißt es. Als Alarmgeber dienen im Pazifik aufgestellte Bojen, an denen die Wassertemperatur gemessen wird. Verändert sie sich, ist El Niño im Anmarsch.

Anpassungsversuche

Der Klimawandel zwingt uns nicht nur, Treibhausgasemissionen zu vermeiden. Auch die Anpassung an veränderte Bedingungen ist nötig. In den El-Niño-Regionen und vielleicht auch in der innertropischen Konvergenzzone. Entlang dieses Regenbandes, das sich um die ganze Erde zieht, fallen die meisten Niederschläge. Derzeit befindet es sich nördlich des Äquators - zwischen dem 3. und 10. Breitengrad. Aber Forscher der University of Washington in Seattle vermuten, dass es nicht so bleibt.

Auf einer Pazifikinsel rekonstruierten sie bis zu 1200 Jahre zurückliegende Regenfälle. Sie bohrten dazu Rohre in einen See und entnahmen Schlammproben, die sich als klimatisches Gedächtnis der Insel eignen. Nach den Proben zu urteilen ist das Regenband in den letzten 400 Jahren um fünf Grad nach Norden gewandert. Und es droht noch einmal fünf Grad weiterzugehen, glauben die Forscher. Damit läge die innertropische Konvergenzzone plötzlich auf 8 bis 15 Grad nördlicher Breite. Heute noch feuchte Gebiete - Nordindonesien, Thailand oder Kolumbien - würden plötzlich trocken liegen und die regionale Landwirtschaft zusammenbrechen.

Nicht alle Forscher sagen, dass der Mensch den Klimawandel verursacht. Nach der Svensmark-Theorie - von Klimaskeptikern gerne verwendet - bestimmt kosmische Strahlung die Bewölkung. Womit eine natürliche Ursache für die momentane Erwärmung gefunden wäre: die Sonnenaktivität. Erwiese sich die umstrittene Theorie als richtig, müsste die gesamte Klimapolitik umgekrempelt werden. Ulrike Lohmann von der ETHZ hält aber nicht viel davon. Sie sagt: "Der Einfluss der kosmischen Strahlung auf die Wolkenbildung ist zu vernachlässigen."

Andreas Lorenz-Meyer, geboren 1974, lebt als freier Journalist in Hamburg, schreibt über wissenschaftliche Themen aller Art.