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Das Recht als Spielball der Macht

Von Ronald Schönhuber

Politik

Die Korruptionsrazzien legen auch offen, wie die Politik die Justiz instrumentalisiert.


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Instanbul/Wien. Seit knapp 15 Jahren lebt Fethullah Gülen nicht mehr in seinem Heimatland, der kleine Ort Saylorsburg im US-Bundesstaat Pennsylvania, in dem der 72-Jährige seine Tage verbringt, liegt tausende Kilometer von der Türkei entfernt. Doch seit dort am Dienstag 52 Menschen - darunter drei Ministersöhne sowie hohe Beamte und Geschäftsleute aus dem Dunstkreis der regierenden AKP - unter Korruptionsverdacht festgenommen wurden, ist der Mann mit dem weißen Schnauzbart in der Türkei wieder omnipräsent. Der islamische Prediger, der mittlerweile einen global tätigen Weltanschauungskonzern mit Schulen, Akademien und TV-Sendern betreibt, steht im Verdacht, bei den Razzien im Hintergrund die Fäden gezogen zu haben.

Gülen galt über Jahre hinweg als enger Weggefährte vom Premier Recep Tayyip Erdogan, welche Kluft die beiden Männer mittlerweile trennt, wurde aber schon im vergangenen Monat deutlich, als der Regierungschef ankündigte, die Nachhilfezentren der Gülen-Bewegung schließen lassen zu wollen. Dass Gülen als Drahtzieher der Verhaftungen gesehen wird, hat vor allem damit zu tun, dass viele seiner Gefolgsleute Schlüsselpositionen bei der Polizei und innerhalb der Justiz bekleiden. So steht etwa der als Staatsanwalt für die Razzien verantwortlich Zekeriya Öz, der von der AKP noch vor wenigen Monaten als unbestechlicher Saubermacher in den Mammutprozessen gegen hohe Militärs gefeiert wurde, nun im Ruf, ein Anhänger Gülens zu sein.

In welchem Ausmaß die Justiz in der Türkei - trotz aller Fortschritte im Zuge der EU-Beittritsverhandlungen - noch immer ein Spielball politischer Interesse und weitreichender Machtkämpfe ist, zeigt aber nicht nur der Umstand, dass der Hohe Rat der Richter und Staatsanwälte Öz nur 48 Stunden nach Beginn der Razzien von dem Fall abgezogen hat. In den kommenden Tagen stehen auch drei Massenprozesse gegen türkische und kurdische Anwälte auf dem Programm, denen zum Teil hohe Haftstrafen drohen.

"Ins kriminelle Eck gedrängt"

Bereits am Donnerstag wurde im knapp 50 Kilometer von Istanbul entfernt liegenden Silivri das sogenannte KCK-Verfahren fortgesetzt. 46 Anwälte müssen sich dort gegen den Vorwurf verteidigen, Mitglieder der Union der Gemeinschaften Kurdistans zu sein, die von der türkischen Regierung als terroristische Vereinigung angesehen wird. Nur vier Tage später beginnt der Prozess gegen Mitglieder der Fortschrittlichen Anwaltsvereinigung, die Anfang Jänner wegen des Verdachts, der verbotenen Stadtguerilla DHKP-C anzugehören, verhaftet wurden. Und Anfang nächsten Jahres muss sich fast der gesamte Vorstand der Istanbuler Rechtsanwaltskammer wegen "illegaler Beeinflussung der Justiz" im sogenannten Sledgehammer-Verfahren verantworten.

Dass die zumeist regierungskritischen Anwälte in diesen Prozessen ein faires und europäischen Standards entsprechendes Verfahren bekommen, scheint allerdings fraglich. "Es geht hier auch darum, Rechtsvertreter einzuschüchtern und ins kriminelle Eck zu drängen", sagt die türkisch-österreichische Rechtsanwältin Banu Kurtulan. Sie ist eine von vielen europäischen Juristen, die im Namen der nationalen Rechtsanwaltskammern in den kommenden Tagen in die Türkei fliegen werden, um die Prozesse zu beobachten und ihnen Öffentlichkeit zu verschaffen.

Rechtsstaatlich fragwürdig ist für die Prozessbeobachter neben der langen Verfahrensdauer - so trat das Gericht im KCK-Verfahren erst acht Mal zusammen, obwohl einige Beschuldigte schon seit zwei Jahren in Haft sind - vor allem die Art der Beweisführung. So wird etwa jenen Anwälten, die den inhaftierten Kurdenführer Abdullah Öcalan verteidigt haben, von der Staatsanwaltschaft unterstellt, nicht nur ihren anwaltlichen Pflichten nachgekommen zu sein, sondern auch die Interesse und Anliegen ihres Mandanten zu teilen. Und angesichts der noch immer relativ weit auslegbaren türkischen Anti-Terrorgesetze reicht das oft schon, um sich selbst mit Terrorvorwürfen konfrontiert zu sehen. "In vielen Fällen sind Beweise auch nur für den Richter zugänglich, da sie als Staatsgeheimnis klassifiziert sind", sagt Kurtulan. Angesichts dieser Ausgangslage müsse sich jeder türkische Anwalt drei- oder viermal überlegen, ob er einen Mandanten überhaupt verteidige. Dass sich daran in naher Zukunft etwas ändern wird, glaubt Kurtulan nicht. Denn der politische Wille, den fragilen Rechtsstaat auf stärkere Beine zu stellen, sei nur schwach ausgeprägt.