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Das Recht auf Wahrheit

Von Heinrich Neisser

Hundert Jahre nach der gezielten Vernichtung des armenischen Volkes hat die internationale Politik die moralische Verpflichtung, diese Untat endlich als Völkermord anzuerkennen.


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Der 24. April 1915 war ein Schicksalstag des armenischen Volkes. Mit diesem Datum begann im Osmanischen Reich die Deportation, die in einen Völkermord mündete bzw. mit diesem Ziel gestartet wurde. Obwohl diese gezielte Vernichtung des armenischen Volkes mehr als 1,5 Millionen Menschen das Leben kostete, leugnet die Türkei als Nachfolgestaat des Osmanischen Reiches bis heute die Existenz eines Genozids. Der türkische Ministerpräsident Erdogan hatte in einer Erklärung anlässlich des 99. Gedenkjahres an das Massaker im Jahr 2014 erstmals das Bedauern über das Geschehen ausgedrückt, doch war diese Erklärung keine Anerkennung des Völkermordes und auch keine formelle Entschuldigung.

Eine offene Wunde

Die damit verbundene Hoffnung, dass damit eine Mentalitätsänderung in der Türkei ausgedrückt wurde, die das Verhältnis zu Armenien entscheidend ändern werde, hat sich jedoch nicht erfüllt. Auch zum Zeitpunkt des 100-jährigen Gedenkens an den armenischen Völkermord bleibt dieses Ereignis eine offene Wunde im Verhältnis zweier Staaten, deren Geschichte im Rückblick auf die vergangenen 150 Jahre voll von Spannungen und Gegensätzen war. Es gibt mehrere Gründe, die armenische Katastrophe nicht nur als historisches Ereignis anzusehen, das für Gegenwart und Zukunft keine Relevanz besitzt. Die internationale Gemeinschaft muss auch heute den Gefahren eines Völkermordes eine erhöhte Aufmerksamkeit widmen.

Das 20. Jahrhundert war eine Epoche einer Reihe von erschütternden Genoziden, deren Ziel Vernichtung war. Es waren dies die Katastrophe des Holocaust, die Völkerverfolgungen durch Stalin, aber ebenso die Schreckensherrschaft von Pol Pot in Kambodscha und die Vernichtungsfeldzüge von Mao Tse Tung in China, die Völkermordtragödien in Ruanda und Burundi, schließlich die ethnischen Auseinandersetzungen im früheren Jugoslawien zwischen Bosniern, Serben und Kroaten; zuletzt soll auch die Lage im Südsudan nicht vergessen werden, wo muslimische Milizen einen Ausrottungskampf führen.

Erinnern sollte man sich auch an den verbalen Radikalismus des früheren iranischen Präsidenten Ahmadineschad, der noch im Jahr 2005 lautstark verkündete, dass Israel von der Landkarte verschwinden müsse.

Völkermord ist auch heute eine reale Bedrohung. Ethnische Säuberungspolitik und eine gewaltsame Ethnopolitik verlangen eine verstärkte Präventionspolitik. Forscher der University of Sydney erstellten eine Liste von 15 Staaten, die zwischen 2011 und 2015 ein erhöhtes Genozidrisiko aufwiesen (etwa die Zentralafrikanische Republik, Somalia, Syrien, Afghanistan). Die Idee eines weltweiten Warnsystems verdient Beachtung: In den betroffenen Ländern sollten wissenschaftliche Informationssysteme mit internationalen Einrichtungen verbunden werden, die sich aus Führungspersönlichkeiten verschiedener Religionen/Ethnien und politischer Strömungen zusammensetzen.

Politische Folgerungen

Welche Lehren können wir aus dem armenischen Völkermord ziehen? Genozide haben im Regelfall eine langfristige Vorgeschichte, sie wurzeln in vorangegangenen Konflikten und Verfolgungen. Das macht die Vorgeschichte des armenischen Pogroms deutlich. Genozide sind tiefgreifende Verbrechen gegen die Menschlichkeit, aber auch Anlass zu opportunistischer Politik. Das zeigt sich im Fall des armenischen Völkermordes in erschütternder Deutlichkeit. Der Vorschlag des damaligen deutschen Botschafters in der Türkei, die Ausschreitungen und Deportationen öffentlich zu machen, führte zu einer zynischen und opportunistischen Reaktion des deutschen Reichskanzlers Bethmann-Hollweg: "Unser einziges Ziel ist es, die Türkei bis zum Ende des Krieges an unserer Seite zu halten, gleichgültig, ob darüber Armenier zu Grunde gehen oder nicht." Es dauerte, bis sich das Bewusstsein vertiefte, dass die Verantwortlichen für das Morden identifiziert und bestraft werden müssen. Das wurde erst relativ spät durch das Völkerrecht festgestellt. Mehr als 40 Jahre nach dem armenischen Genozid setzten die Vereinten Nationen einen bedeutenden und substanziellen Schritt in der Verantwortlichkeit für den Völkermord.

Was ist Völkermord?

ln der 1948 beschlossenen Genozid-Konvention wurde Völkermord als Verbrechen - gleichgültig, ob im Frieden oder in Kriegszeiten begangen - gebrandmarkt. Allgemein wird Völkermord als jenes Handeln bezeichnet, das in der Absicht erfolgt, eine nationale, ethnische, rassisch oder religiöse Gruppe ganz oder teilweise zu zerstören. Als konkrete Handlungen werden in diesem Zusammenhang angeführt: Tötung von Mitgliedern der Gruppe; Zufügung von schwerem körperlichen und seelischem Schaden; vorsätzliche Unterwerfung unter Lebensbedingungen mit dem Ziel, körperliche Zerstörung ganz oder teilweise herbeizuführen; Maßnahmen, die auf die Geburtenverhinderung einer Gruppe hinzielen; die gewaltsame Überführung von Kindern einer Gruppe in eine andere Gruppe.

Völkermord zielt auf körperliche, biologische und kulturelle Ausrottung. Zu den letztgenannten Zielen gehören das Verbot der Landessprache im Privatleben sowie die systematische Vernichtung von geschichtlichen und religiösen Denkmälern. Die Staaten sind verpflichtet, die Akteure des Völkermordes vor ein zuständiges innerstaatliches Gericht zu stellen oder der Verantwortung vor einem internationalen Gerichtshof zuzustimmen.

Die Genozidkonvention kann als völkerrechtliche Norm auf den Massenmord der Armenier nicht angewendet werden, sie enthält aber ein Tatbild des Völkermordes, das dem Ereignis des armenischen Genozids entspricht. Die genannte UN-Konvention ist vor allem auch in dem Bewusstsein geschaffen worden, dass Völkermorde in allen Perioden der Geschichte Ausdruck einer besonderen Unmenschlichkeit gewesen sind.

Unabhängig von der rechtlichen Anwendbarkeit der Völkermordkonvention auf die armenische Tragödie des Jahres 1915 kann man eine moralische Verpflichtung daraus ableiten, die Debatte über den armenischen Völkermord zu einem substanziellen Ende zu bringen.

Die weitreichende Bedeutung dieser Diskussion ist auch von der Europäischen Union erkannt worden. Das Europäische Parlament hat in mehreren Resolutionen die Türkei aufgefordert, den armenischen Völkermord anzuerkennen, das sei Voraussetzung für einen EU-Beitritt der Türkei.

Zu den bemerkenswertesten Dokumenten der jüngsten Entwicklung gehört eine Resolution, die die Fraktion der Europäischen Volkspartei am 3. März 2015 über den "armenischen Genozid und europäische Werte" beschlossen hat. Darin wird der Völkermord verurteilt und die Türkei aufgefordert, folgende Maßnahmen durchzuführen: Anerkennung und Verurteilung des armenischen Völkermordes; die Meinungsfreiheit über die Tatsache des armenischen Völkermordes zu gewährleisten; die Normalisierung des Verhältnisses zwischen Türkei und Armenien herbeizuführen sowie eine "complete Europeanisation of their relationship". Die Europäische Union, deren Kommission, Rat und Europäisches Parlament sowie die internationale Gemeinschaft werden eingeladen, sich für den Prozess der Anerkennung einzusetzen.

Neue Impulse

Es ist zu hoffen, dass diese Resolution der größten Fraktion im Europäischen Parlament der Debatte über die Anerkennung des armenischen Genozids neue Impulse gibt. Die Anerkennung ist ein Ausdruck des Respekts vor dem armenischen Volk. Sie ist die Anerkennung einer historischen Wirklichkeit und unterstreicht gleichzeitig die Absicht, alles zu tun, dass sich solche Ereignisse nicht wiederholen. Sie ist vor allem auch ein wichtiges Element für die Identität des armenischen Volkes, das durch ein Leben in der Diaspora geprägt ist.

Die Identität eines Volkes gründet auf dem Recht des Menschen auf Wahrheit und das Wissen um seine Geschichte. Der Völkermord am armenischen Volk kann nicht in Frage gestellt werden. Die Historiker haben dazu einen wichtigen Beitrag zu leisten. Die Auseinandersetzung darf aber nicht ihnen allein überlassen werden. Die Anerkennungsdiskussion ist eine politische Aufgabe, die von politischen Verantwortungsträgern zu lösen ist. Regierung und Parlament haben sich zu positionieren. Die Europäische Union leistet dazu unter Hinweis auf die europäischen Werte einen wichtigen Beitrag. Es ist zu hoffen, dass die österreichischen Entscheidungsträger in der Diskussion Stellung beziehen und nicht in falsch verstandener Zurückhaltung diese Debatte mit Schweigen begleiten.

Heinrich Neisser, geboren 1936, Jurist und Politiker (ÖVP), war Staatssekretär, Föderalismusminister, Klubobmann und Zweiter Nationalratspräsident. Heute ist er Obmann der "Initiative Mehrheitswahlrecht und Demokratiereform".