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Das Referendum und die Kurden

Von Walter Posch

Gastkommentare

Gastkommentar: Aller Wahrscheinlichkeit nach wird das türkische Verfassungsreferendum nicht jener große Erfolg werden, den sich Präsident Erdogan erhofft. Für die eigentliche Überraschung dürfte dabei seine eigene Partei AKP sorgen.


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Auch kurz vor dem türkischen Verfassungsreferendum ist dessen Ausgang ungewiss. Zwar deuten die Umfragen auf einen Sieg des "Ja"-Lagers und mithin des Präsidenten Recep Tayyip Erdogan hin. Doch mit etwas mehr als 50 Prozent liegt er weit unter der von ihm erhofften und angesichts der Tragweite seiner Staatsreform politisch auch notwendigen Zwei-Drittel-Mehrheit.

Nimmt man das Ergebnis der vergangenen Wahlen vom 1. November 2015 als Ausgangslage, so müssten sich die AKP und ihr Koalitionspartner MHP keine Gedanken über das Referendum machen, da sie damals gemeinsam 61 Prozent der Stimmen erreichten. Allerdings war dieses Ergebnis hauptsächlich der militärischen Eskalation im Südosten des Landes geschuldet, die auf den Zusammenbruch des Friedensprozesses mit der PKK folgte.

Ärger mit Koalitionspartner

Doch diesmal ist das Kalkül, durch Druck auf die pro-kurdische HDP - viele ihrer Kader wurden unter fadenscheinigen Beschuldigungen verhaftet - und Vertreibung von geschätzten 500.000 Kurden aus ihrer Heimat das "Nein"-Lager zu neutralisieren, nicht aufgegangen. Denn ausgerechnet bei den Ultranationalisten von der MHP ist eine starke Gruppe ins "Nein"-Lager gewechselt. Der Hintergrund war dabei nicht nur die Ablehnung der neuen Präsidialvollmachten für Erdogan unter vielen MHP-Mitgliedern, sondern auch, dass mit Meral Aksener die jüngere und gebildetere Fraktion der MHP eine neue Vertreterin gewonnen hat, die in der Lage wäre, die alte Generation unter Parteichef Devlet Bahçeli abzulösen. Seither sehen sich Aksener und ihre Unterstützer unablässigen Angriffen von Seiten der Getreuen Bahçelis und Erdogans ausgesetzt. So werden ihre Veranstaltungen regelmäßig gestört, wenn sie überhaupt stattfinden dürfen.

Ähnlich ergeht es der größten Oppositionspartei, der sozialdemokratischen CHP, die wie alle Vertreter des "Nein"-Lagers die Verwendung staatlicher Institutionen und Finanzmittel für die "Ja"-Kampagne kritisiert und sich vor allem über die missbräuchliche Verwendung der Fernsehzeit für die Vertreter der Regierung beklagt.

Die eigentliche Überraschung dürfte es aber bei der AKP geben. Zwar hat Erdogan seine Partei längst entkernt und zur reinen Personalreserve degradiert, aber gerade islamistisch und islamisch-demokratisch orientierte Politiker wie Bülent Arnç, Abdullah Gül und Ahmet Davutoglu gehen deutlich auf Distanz zu den geplanten Reformen, auch wenn sie den offenen Bruch mit dem immer unberechenbarer werdenden Erdogan nicht wagen. Wie bei den MHP-Anhängern gilt auch für die AKP: Die Vertreter der gebildeteren jungen urbanen Generation neigen eher zum "Nein".

Das erklärt auch, warum Erdogan die Stimmen der Auslandstürken so dringend braucht. Diese waren ihm spätestens nach den Auftrittsverboten für türkische Politiker in Europa sicher. Bei diesen Besuchen handelte es sich im Prinzip um von Ankara aus gesteuerte Provokationen, bei denen die Europa-Organisationen der AKP wie die UETD eine wichtige Rolle spielten, die wiederum moralische Unterstützung von Mafiapaten wie Sedat Peker erfuhren, der Präsident Erdogan nahesteht.

Damit stellt sich die Frage, was nach dem 16. April geschieht. Zunächst besteht das Risiko, dass Extremisten von Links und Rechts (marxistische Splittergruppen beziehungsweise nationalistische Mafia) eine Welle der Gewalt entfachen, darüber hinaus beginnt pünktlich zur Schneeschmelze die Sommeroffensive der PKK. Dennoch herrscht ein politisches Patt, und Erdogan muss sich bewusst sein, dass er sich in eine einseitige Abhängigkeit zu den Ultranationalisten begeben hat und die bis zum Referendum mobilisierten Kräfte vielleicht noch länger mobilisieren, aber längst nicht mehr kontrollieren kann.

Verwegene Pläne der Kurden

Die zahlreichen Menschenrechtsverletzungen und erratischen Gerichtsurteile gegen Politiker, Akademiker und Aktivisten sind nicht als Ausdruck eines sinistren Masterplans zu verstehen - sondern als reines Chaos. Will Erdogan die politische Initiative wieder zurückgewinnen, bleibt ihm nur die kurdische Option. Und zwar entweder in Form der Wiederaufnahme des Friedensprozesses oder als Entgegenkommen gegenüber den konservativen Kurden, bei denen er zuletzt stark verloren hat. Diese sehen den Kampf zwischen der PKK und den türkischen Sicherheitskräften in erster Linie als gegenseitige Schwächung ihrer Gegner und setzen auf ihre politische Karte im Rahmen des islamisch-konservativen Spektrums. Sie sind prinzipiell bereit, Erdogans Präsidialreform zu unterstützen, sofern er ihnen in anderen Punkten entgegenkommt: nämlich bei der Einführung einer "subnationalen Verwaltungsebene", was das Ende des türkischen Zentralismus bedeuten würde.

So verwegen ein solcher Plan, Treue für Erdogan mit lokaler Autonomie zu vergelten, auch scheinen mag, ähnliche Überlegungen gab es schon - von Abdullah Öcalan. Das allgemeine politische Patt und die relative Schwäche Erdogans könnten dieser Überlegung damit tatsächlich zum Durchbruch verhelfen - und zwar selbst, wenn es in allen Kurdengebieten ein klares "Nein" geben sollte.

Walter Posch studierte Islamwissenschaft, Turkologie und Iranistik in Wien, Istanbul und Bamberg. Er arbeitet am Institut für Friedenssicherung und Konfliktmanagement der Landesverteidigungsakademie in Wien.