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Das "Rote Wien" und seine späten Erben

Von Paul Vécsei

Politik

Vor 100 Jahren starteten Sozialdemokraten in Österreichs Hauptstadt ihren Versuch, eine neue Welt zu schaffen.


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Wien. Das große Experiment begann am 4. Mai 1919: Die ersten freien Wahlen zum Wiener Gemeinderat brachten den Sozialdemokraten (SDAP) die absolute Mehrheit. Hunger, Krankheit, Versorgungskrise und die daraus entspringende revolutionäre Stimmung hatten die Christlich-Soziale Partei von der von der Rathaus-Spitze weggespült.

Die rote Mehrheit wuchs sogar noch an. Sie sollte bis zum furchtbaren 12. Februar 1934 bestehen. Dann machten die von der schwarzen Regierung Engelbert Dollfuß‘ eingesetzten Kanonen letzten roten Träumen im viertägigen Bürgerkrieg den Garaus. Sie beendeten ein soziales, kulturelles und pädagogisches Projekt, das mit seinen Leistungen bis heute international große Beachtung findet.

Seither gibt es auch viele Mythen um diese Ära des "Roten Wien". Funktionäre der Nachfolge-Organisation der SDAP, der heutigen SPÖ, bauen rhetorisch gerne darauf. Die Partei heute hat mit den Vätern seit Gründung der Zweiten Republik eine relative Dominanz gemein. Aber weder redet jemand in der ersten Reihe von Wiens SPÖ von substanzieller ökonomischer "Umverteilung" und schon gar niemand von "Sozialismus" oder der Heranbildung des "Neuen Menschen". An all das hat man nämlich im "Roten Wien" sehr wohl geglaubt.

Im "Roten Wien" von 1919 sollten soziale und kulturelle Reformen zu Gunsten der Schwachen gemeinsam mit einer ethisch motivierten Bildungsoffensive diese Utopie ermöglichen. Eine Versorgung "von der Wiege bis zur Bahre", also vom berühmt gewordenen ersten Wäschepaket für Neugeborene bis zum Bestattungsverein "Die Flamme", sollte den Rahmen einer gerechteren Welt aufbauen helfen.

Letztlich ist das Experiment des "Roten Wien" grandios gescheitert. Nicht nur weil nach 1934 fast alle Reformen von österreichischen und deutschen Faschisten zurückgedreht wurden. Denn trotz der gewaltigen Leistungen im Wohnbau (63.000 neue Wohnungen in wenigen Jahren) hatten gegen Ende des "Roten Wien" nur rund 18 Prozent der Arbeiterinnen in ihrer Wohnung Strom, Gas und Wasser. Es gab noch immer "Bettgeher" (Obdachlose in privat vermieteten Schlafstellen). Das hat 1932 keine Geringere als die später von den Nazis ermordete Frauenfunktionärin Käthe Leichter erhoben.

Die Arbeitslosigkeit war nicht zu beherrschen, Armut dominierte auch im Roten Wien weiter. Dennoch - und erst recht - ist Unglaubliches gelungen: Nicht nur die Wohnbauexplosion mit den riesigen Gemeindebauten; von den Jahren 1919 bis 1934 gingen aus Österreichs Metropole Impulse und Hoffnungen aus, die zeigten, dass es zumindest zum Teil gelebte Utopien und so etwas wie einen Weg zu ihrer Verwirklichung geben kann. 1919 hat alles noch relativ friedlich begonnen. In einem "Trennungsgesetz" wurde der "Wasserkopf" Wien 1920 eigenständig und von Niederösterreich gelöst. Das ermöglichte den Roten ihre ungebremste Dominanz und Reformpolitik und sicherte den Schwarzen ihre Hegemonie im Umland.

Es begann mit einer Trennung

Beide scheuten einander wie die Teufel das Weihwasser.- Heute würde man wohl so etwas eine "Win-win-Situation nennen. Die Bürgermeister Jakob Reumann und nach dessen Erkrankung Karl Seitz (ab 1923) waren die Gallionsfiguren. Tausende "Vertrauensmänner" sorgten in der stark wachsenden Partei für Vermittlung und Kommunikation. Bittere Fraktionskämpfe gab es bei den Sozialdemokraten immer und somit auch damals schon.

Finanzstadtrat Hugo Breitner legte den ökonomischen Grundstein für die Wiener Reformpolitik: Er machte wahre "Umverteilung" und schuf ein sozial abgestuftes Steuersystem: Reiche mussten für Reitpferde, Privatautos, Dienstpersonal, Hundebesitz, Nachtlokale und Bordelle Luxus-Abgaben berappen. Beim Gros der Bevölkerung wurde Breitner damit populär und finanzierte mit einer eigenen Wohnbausteuer die neuen Bauten. Sozialstadtrat Julius Tandler wurde von Breitner schelmisch als "teuerster Freund" bezeichnet. Dem ursprünglichen Anatomieprofessor an der Uni gab Breitner Mittel für medizinische Versorgung, zur Bekämpfung der "Wiener Krankheit" Tuberkulose, für 23 Kinderfreibäder, Horte, Parks, Sportanlagen, Schwangeren- und Säuglingsfürsorge. Der Bau und Betrieb der Feuerhalle Simmering musste erst im Kulturkampf gegen die Bundesregierung beim Verfassungsgerichtshof durchgesetzt werden. Heute weiß man, dass Tandler in seiner Biografie auch rassistische Flecken zu verzeichnen hat. So sind etwa von 1929 Aussagen "zur Unfruchtbarmachung der Minderwertigen" überliefert.

Wohlfahrtsreform wurde vom umfangreichen Bildungs- und Schulpaket des legendären Stadtschulratspräsidenten Otto Glöckel ergänzt. Dessen Traum einer Gesamtschule der Zehn- bis 14jährigen ist allerdings bis heute nicht verwirklicht. Begleitet wurde alles von einer Kulturoffensive: Arbeiter-Symphoniekonzerte, Theater, Kunst am (Gemeinde-)Bau, Vereinsangebot für Freizeit. - Alles immer mit Geselligkeitscharakter.

Slogans erinnern an damals

Das "Rote Wien" suchte mit Tatkraft Wege für mehr Gerechtigkeit und schuf Grundlagen für die Partizipation Benachteiligter. Parallelen von damals zu heute sind konstruierbar: Wien soll nach den Vorstellungen roter Politik wieder den täglich gelebten Gegenentwurf einer "menschenfeinlichen" Politik "für die Konzerne" bilden. Eine "soziale Alternative für Zusammenhalt". Der "Gegenentwurf" zur "reaktionären Politik" der "unsozialen Bundesregierung". Die Slogans vermögen an alte Zeiten zu erinnern.

Die "Wiener Zeitung" titelte am Donnerstag in Berichten über die SPÖ-Maifeiern: "Wir stehen auf den Schultern von Riesen". Erkannt hat dies die Wiener SPÖ-Frauensprecherin Marina Hanke, die das Zitat formulierte. Ein Zurückblicken solle nach ihrer Meinung, nur ein kurzes Verweilen sein. Da kann man nur gut meinend raten: "Also - Vorwärts, Genossen!"