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Die Medienberichte verzerren die Realität in der Ukraine. Die Fokussierung auf die Gegner des Regimes ignoriert oft die vorhandenen Unterstützer.
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Wenn sich die ukrainischen Regimegegner dieser Tage auf dem Maidan in Kiew versammeln, ist ihnen die öffentliche Aufmerksamkeit gewiss. Wie so oft, wenn sich Protest regt, sind die Medien zur Stelle. Kamerateams, Korrespondenten und Reporter berichten vom Ort des Geschehens. Die Bilder erwecken den Eindruck, hier kämpfe eine unterdrückte Mehrheit gegen ein Unrechtsregime. Und es stimmt ja auch: Präsident Wiktor Janukowitsch geht mit aller Härte gegen die Demonstranten vor. Es hat bereits Tote gegeben.
Doch die Bilder verzerren die Realität. Denn auch die Demonstranten sind nicht gerade zimperlich im Umgang mit den Ordnungskräften. Sie attackieren Polizisten, werfen mit Steinen, die Spezialeinheiten antworten mit Gummigeschossen. Es wird hüben wie drüben scharf geschossen. Doch die Medien vermitteln ein Schwarz-Weiß-Bild: hier die guten Demonstranten, die ihr Recht auf Demonstrations- und Redefreiheit einfordern. Dort das böse Regime, das die Proteste gewaltsam niederknüppelt.
Und in diese verzerrte Wahrnehmung projizieren westliche Politiker ihre Denkmuster. Motto: Da begehren mutige Bürger auf, die unsere Idee von einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung teilen. US-Außenminister John Kerry sagte: "Die übergroße Mehrheit der Ukrainer strebt nach Freiheit und Sicherheit und will in einem prosperierenden Land leben." Ist es wirklich die "übergroße Mehrheit"? Die TV-Bilder suggerieren das. Die Berichterstatter überbieten einander: tausende, hunderttausende Demonstranten.
Aber auch hier ist das Bild schief. In Wahrheit ist die Ukraine ein tief gespaltenes Land. Der Osten unterstützt mehrheitlich das Jankukowitsch-Regime. Im Donez-Becken, wo die Stahl- und Steinkohleindustrie nach wie vor eine wichtige Rolle spielt, hält man von den Maidan-Protesten wenig. Die Leute dort wollen keinen Wandel. Auch das gehört zur Wahrheit.
Allein, die Unterstützer der Regierung werden in der Öffentlichkeit kaum gehört. Die Funk- und Fernsehanstalten fokussieren sich auf die Demonstranten und verleihen ihnen eine mediale Präsenz, die die Kräfteverhältnisse im Land nicht widerspiegelt. Die Demonstranten erhalten qua ihrer Aktivität eine sachwidrige Deutungshoheit über das politische Geschehen. Und die Regierungschefs in Paris, Berlin oder Wien applaudieren. Boxweltmeister Vitali Klitschko wurde zur Ikone des Protests stilisiert und auf der Münchner Sicherheitskonferenz wie ein Superstar empfangen. Der kampferprobte Kosmopolit, der die Ukraine aus den Fängen Moskaus befreit, das war der Tenor.
Dabei ist das Gerede um einen neuen Ost-West-Konflikt zwischen den USA und Russland völlig fehl am Platz. Beim Machtkampf in Kiew geht es um ein genuin ukrainisches Problem: Wohin soll sich das Land künftig orientieren? Nach Brüssel oder nach Moskau? Die pro-europäischen Proteste auf dem Maidan sind nur ein Ausschnitt aus der fragmentierten politischen Landschaft. Zum vollständigen Bild der aktuellen Lage gehört auch, dass der Osten der Ukraine eben keine Annäherung an die EU wünscht.