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Griechenland im Chaos: Familien plündern ihre Konten, Unternehmer liefern nur an ausgesuchte Kunden.
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Athen. Elisa Renieri (Name geändert), 53, kriecht auf Händen und Füßen, bis sie im Kleiderschrank in ihrem Schlafzimmer hinter ein paar Pullovern eine Tüte hervorzieht. Zwischen Strümpfen, Slips und Büstenhaltern steckt der Umschlag. Sie öffnet ihn. Er ist voller Euro-Geldscheine. "Ich habe in der Wohnung drei Verstecke. Hier, im Bad und im Kinderschlafzimmer", sagt sie. Wie viel Geld hat sie in der Wohnung insgesamt versteckt? "67.000 Euro. Ich habe mein Konto leergeräumt."
Ob schleichender Bankenrun, hartnäckige Gerüchte über baldige Kapitalkontrollen oder ein drohender Grexit, der Ausstieg Griechenlands aus der Eurozone: Renieri ist kein Einzelfall. In Massen heben die Griechen ihr letztes Geld von ihren Konten bei den darbenden Geschäftsbanken ab.
Um mehr als 30 Milliarden Euro schmolzen die einheimischen Spar- und Termineinlagen seit Februar. In diesen Tagen sollen es wieder höhere Beträge gewesen sein, so Beobachter. Wo die Hellenen das meiste Geld bunkern? Zuhause.
Die krisengeschüttelten Griechen - sie schweben zwischen Hoffen und Bangen. Kein Wunder: Die zähen Verhandlungen zwischen der seit Ende Jänner amtierenden Regierung unter dem linksradikalen Premier Alexis Tsipras und Griechenlands öffentlichen Gläubigern EU, Europäische Zentralbank und Internationaler Währungsfonds ziehen sich nun schon seit Monaten hin. Und immer noch ist nicht klar, wie es mit dem ewigen Euro-Sorgenland weitergehen soll.
Am Donnerstagabend ging eine weitere Eurogruppen-Sitzung ohne Ergebnis zu Ende. Nun soll es ein eilends eingerichteter EU-Sondergipfel der Staats- und Regierungschefs der Eurozone am Montagabend richten. Das Ziel: Den akut drohenden Staatsbankrott Griechenlands zu vermeiden - buchstäblich in letzter Minute.
Das griechische Volk ist gespalten
Immer deutlicher wird: Das Hickhack in der unsäglichen Causa spaltet das Elf-Millionen-Einwohner-Land. Am Mittwochabend stärkten tausende Griechen vor dem Athener Parlament Regierungschef Tsipras den Rücken. Ihr Motto: "Alexis, knick nicht ein! Lass keine Fortsetzung des rigiden Austeritätskurses zu!" Unter den Protestierenden sind noch radikalere Stimmen zu hören: "Beharren die Gläubiger auf ihren Forderungen nach neuen harten Einschnitten, bleibt uns nur eine Lösung: die Rückkehr zur Drachme", sagen sie.
Nur 24 Stunden später schwenken an gleicher Stelle tausende EU-Flaggen und werden Schilder mit der Aufschrift in die Höhe gehalten: "Wir sind die schweigende Mehrheit. Wir wollen Europa und den Euro."
Für die Liounis wäre ein Comeback der Drachme jedenfalls das kleinere Übel. Die Liounis sind das, was man wohl eine typisch griechisch-bürgerliche Familie nennen darf. Panagiotis Liounis, 55, Ehefrau Evangelia, Rufname: Efi, 57, und Tochter Marianna, 20, leben in einer schmucken Wohnung im gutbürgerlichen Athener Vorort Halandri. Im Aufzug läuft Popmusik, in der Wohnung hängen Ölgemälde, die Aussicht vom großen Balkon ist fantastisch. Idylle pur.
Doch der Schein trügt. Panagiotis, einst gefragter Drucker, hat Anfang 2011 von seinem privaten Arbeitgeber den blauen Brief erhalten, erzählt er der "Wiener Zeitung". Die Druckerei druckte Fitnesszeitschriften, Hochglanzmagazine, Prospekte. Gut 2500 Euro brachte er im Monat nach Hause. Doch dann kam die Krise - und die Geschäfte brachen ein. Der Familienvater wurde gefeuert. Nun schlägt er sich als Hausverwalter für ein paar hundert Euro durch, Putzen inklusive. "In Griechenland gibt es einen Spruch: Keine Arbeit ist eine Schande", sagt er.
Seine Frau Efi nickt. Mit 19 begann die Buchhalterin zu arbeiten, mit 50 durfte sie dank ihrem damals minderjährigen Kind in die Rente gehen. Das erlaubt ein griechisches Gesetz. Ihr letztes Gehalt betrug 1400 Euro. Efis Rente heute liegt bei 810 Euro. In Griechenland ist das heute ziemlich genau der Durchschnitt. Die Grundrente beträgt im Schnitt 664,69 Euro, die Zulagen liegen bei 168,40 Euro. Und was macht die Tochter Marianna? Sie lernt Krankenpflegerin. Die Arbeit mache ihr Spaß, sagt sie.
Was Panagiotis Liounis vor allem beschäftigt: dass er endlich in Rente gehen kann. Spätestens mit 59 ginge das. So sieht es das griechische Gesetz vor. Noch. "Falls sich Griechenlands Gläubiger mit ihrer Forderung durchsetzen, dass hier der harte Sparkurs fortgesetzt werden soll, dann gehen hier bald die Lichter aus", seufzt er.
Und die Alternative? "Bruch", sagt Liounis mit fester Stimme. Also "Grexit". "Zuerst wird es uns zwar schlechter gehen, danach aber geht es wieder aufwärts. Griechenland hat doch alles. Tolle Agrarprodukte, das Meer, die Sonne. Wir können nach Russland, China und Indien exportieren. Das schaffen wir", ist Liounis überzeugt.
Was für Ehefrau Efi absolute Priorität auch in einem pleitebedrohten Staat wie Griechenland haben muss: "Das öffentliche Gesundheitssystem. Denn Gesundheit ist das höchste Gut des Menschen." Am meisten Angst hat sie mit Blick auf die Zukunft davor, dass ihre Rente weiter gekürzt wird. "Das wäre ungerecht. Dieses Geld habe ich bezahlt", meint sie aufgebracht. Ganze 51 Prozent seien ihr dafür von ihrem Gehalt abgezogen worden, rechnet die frühere Buchhalterin penibel vor und zieht die Augenbrauen hoch: "Soll das alles umsonst gewesen sein?"
Die Ersparnisse sind aufgebraucht
Die Ersparnisse der Liounis aus Vor-Krisen-Zeiten sind jedenfalls fast aufgezehrt, einschließlich Panagiotis Abfindung in Höhe von 24.000 Euro inklusive. Ihr gesamtes Sparguthaben beträgt heute ihren Angaben zufolge nur noch rund 2000 Euro. Ob Essen, Kleidung oder Urlaub: Man spare "an allen Ecken und Enden".
Stolz ist die Familie hingegen darauf, dass der Kredit für die Wohnung abbezahlt ist - der Krise zum Trotz. Auch der Kredit für das Auto, das noch in guten Zeiten angeschafft wurde, sei beglichen. "Es fährt tadellos. Ein neues Auto brauche ich nicht." Panagiotis Liounis lacht, als er das sagt.
60 Kilometer nördlich von Athen läuft die Produktionsstätte für Metallregale auf Hochtouren. Hier schlägt das Herz des Familienunternehmens Dimitroulakos. Ein Vorzeigeunternehmen in Griechenland - trotz der desaströsen Krise. Hier arbeiten Tag für Firmengründer Theodoros, 60, zugleich Präsident und Geschäftsführer, Ehefrau Theodora, 54, Vizepräsidentin, und ihre beiden Söhne Sotiris, 35, und Stefanos, 30, mit ihren vierzig Mitarbeitern.
"Unfähige Politik - egal, wer an der Macht ist"
Das Blech schneiden, dann lochen: Firmengründer Theodoros schuftet seit seinem zwölften Lebensjahr in dieser Branche, erzählt er der "Wiener Zeitung". Als Hilfsarbeiter habe er begonnen, noch in jungen Jahren habe er seine eigene Firma gegründet. Ob hochmoderne Fertigungsmaschinen oder große Lagerhallen: Neun Millionen Euro habe er in seine Firma bisher investiert, sagt er. Ob die Supermarkt-Kette oder der kleine Privatkunde: Bisher 150.000 Kunden zählt das Familienunternehmen. Theodoros Dimitroulakos lüftet sein Erfolgsgeheimnis: "Wir nehmen jeden Kunden ernst, egal ob wir an ihn Produkte für eine Million Euro oder für einen Euro verkaufen."
Noch nie sei seine Firma in die Verlustzone gerutscht - auch in der Krise nicht, sagt der Firmen-Chef mit sichtlichem Stolz. Er verrät den Grund: "Wir haben die Krise früh kommen sehen. Gut vier Fünftel unseres Absatzes betrifft unseren Heimatmarkt Griechenland, nur knapp ein Fünftel geht ins Ausland. So haben wir den Entschluss gefasst, uns vorsorglich von 60 Prozent der Kunden zu trennen, um nicht Gefahr zu laufen, auf ungedeckten Schecks sitzen zu bleiben", erzählt Theodoros. "Das Schlimmste ist, erst zu liefern und dann dafür nicht bezahlt zu werden." Nur so sei es der Firma gelungen, ihr Personal zu halten, bei vergleichsweise geringen Lohnkürzungen von fünf bis sieben Prozent.
Griechenlands Zukunft sehen Theodoros Dimitroulakos und seine Familienmitglieder jedenfalls gar nicht rosig. "Das Schlimmste sind die Regierenden. Dabei spielt es keine Rolle, wer gerade an der Macht ist," poltert Theodoros gegen die Politikerkaste. Die Politiker hätten "schlicht keine Ahnung", wie eine Wirtschaft funktioniere. Schlimmer noch: "Sie haben keine Vision für Griechenland."
"Das Essen auf dem Teller muss man sich erst verdienen, bevor man es verteilt", fügt der Firmenchef nach einer Pause hinzu. Wenn Firmen Gewinne erwirtschaften, könne ein Teil davon für Sozialpolitik verwendet werden. "Heute will jeder in Griechenland Beamter werden", klagt er. Früher sei das noch anders gewesen. "Unser Lehrer hat uns gefragt, was wir werden wollen. Der eine sagte Klempner, der andere Elektriker, der andere Maurer. So haben wir Griechenland stark gemacht."
Ein weiteres Übel in Griechenland sei der Mangel an Gemeinsinn. "Ein Unding", empört sich Familie Dimitroulakos. Noch heute packe er gerne Seite an Seite mit seinen Arbeitern in der Produktion an, sagt der Firmenchef Theodoros. Schon früh habe er sein Lebensmotto gelernt, das da laute: "Einer für alle, alle für einen." Es wäre nur zu schön, wenn das irgendwann in ganz Griechenland gelten würde. Dies würde sich auch positiv auf die Wirtschaft im Land auswirken. Leise fügt der 60-Jährige dann hinzu: "Um ehrlich zu sein: Ich glaube nicht, dass sich da etwas ändern wird."
Soll Griechenland den Euro behalten? Theodoros grübelt. "Ich war immer für den Euro, auch jetzt noch. Aber ich sage auch: Dieser Schwebezustand ist das Schlimmste. Das muss ein Ende haben. So oder so. Kommt die Drachme wieder, dann wird sie eben kommen. Das Wichtigste ist: Wir müssen endlich wissen, wie es weitergeht."