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"Das Schlimmste steht uns noch bevor"

Von WZ-Korrespondent Klaus Stimeder aus Odessa

Politik
Bürgermeister Truchanow lässt sich trotz des Kriegs den Morgensport und den anschließenden Spaziergang mit dem Hund nicht nehmen.
© Luca Faccio

Gennadij Truchanow, Bürgermeister von Odessa, über seine Stadt im Krieg, dessen wirtschaftliche Konsequenzen und Wladimir Putins vermeintliche Informationsdefizite.


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Gennadij Truchanow mag viele Gesichter haben, ein Kind von Traurigkeit ist er definitiv nicht. Der drahtige Glatzkopf mit den stechenden blauen Augen und dem Händedruck eines Fleischers steht Odessa seit acht Jahren als Bürgermeister vor. Seine berufliche Karriere begann der heute 57-Jährige als Soldat der Streitkräfte der Union der Vereinigten Sowjetrepubliken, aus denen er nach dem Ende der UdSSR im Rang eines Hauptmanns ausschied. Von dem, was folgte, liegt manches im Dunkeln. Fest steht, dass der gebürtige Odessiter nach seiner Militärkarriere eine Sicherheitsfirma gründete und eine Zeit lang für den russischen Ölkonzern Lukoil arbeitete. 2004 fand er als Büromitarbeiter bei der Verkhovna Rada Beschäftigung, dem ukrainischen Parlament. Ein Jahr später wurde er erstmals in den Stadtrat von Odessa gewählt. 2012 kehrte er als Abgeordneter der Partei der Regionen, die damals vom Putin-treuen Premier Viktor Janukowitsch angeführt wurde, nach Kiew zurück. Nur zwei Jahre später wurde er kurz nach der Euromaidan-Revolution zum Bürgermeister seiner Heimatstadt gewählt. 2019 scheiterte sein bisher letzter Versuch, wieder in die Rada einzuziehen, weil die Splitterpartei, der er angehörte, den Sprung über die Fünf-Prozent-Hürde verfehlte.

Abgesehen von der Politik machte Truchanow Schlagzeilen, als sein Name in Zusammenhang mit dubiosen Immobiliengeschäften in London in den "Panama Papers" auftauchte. Zudem wurde er 2018 in der Ukraine wegen des Verdachts auf Amtsmissbrauch verhaftet. Die Leute in Odessa kümmert derlei wenig. Wenn man auf der Straße Meinungen über ihn einholt, ergibt sich ein relativ eindeutiges Bild. Tenor: Klar würden er und seine Leute auch aufs eigene Fortkommen schauen, aber weil Truchanow von der Justiz kein Fehlverhalten nachzuweisen war, sei das Entscheidende, dass sein Herz für seine Geburtsstadt und deren Einwohner schlägt - was ihm selbst seine politischen Gegner abnehmen. Aus der Ruhe bringt ihn jedenfalls nichts schnell. Während des Gesprächs mit der "Wiener Zeitung" kündigte der Luftalarm den Einschlag nahender russischer Raketen an. Zu Ende führte er es trotzdem ungerührt.

"Wiener Zeitung": Sie waren lange Soldat. Vor allem auf dieser Erfahrung beruhend: Wie lautet Ihre Einschätzung der derzeitigen Lage in Odessa?

Gennadij Truchanow: Die Situation ist angespannt. Das Ziel der Besatzer ist klar: Um eine Verbindung zu Transnistrien zu schaffen, müssen sie durch Odessa kommen. Unsere Stadt ist aufgrund ihrer strategischen Lage sowie wirtschaftlich enorm wichtig. Auch symbolisch wäre die Einnahme Odessas ein riesiger Erfolg für sie. Wir warten seit Tag eins des Kriegs darauf, dass ihre Truppen an unseren Stränden landen. Das kann immer noch jeden Tag passieren, aber inzwischen sind wir darauf vorbereitet.

Wie kann man sich den Alltag des Bürgermeisters einer Millionenstadt im Krieg vorstellen?

Mein Terminplan hat sich geändert, aber den Morgensport habe ich mir bisher ebenso wenig nehmen lassen wie den anschließenden Spaziergang mit meinem Schäferhund im Park. Das hat auch den positiven Effekt, dass mich dabei die Leute sehen und sich dann denken: Wenn der Bürgermeister hier seelenruhig herumspaziert, dann fühle ich mich selber gleich ein wenig sicherer. Die Arbeitstage sind so intensiv geworden, wie es die Situation verlangt. Wir unterstützen die Bataillone der Territorialverteidigung, wir kümmern uns um den Nachschub und das Lagern von Lebens- und Arzneimitteln und wir sorgen für die Flüchtlinge aus den umkämpften Gebieten, die täglich in Odessa ankommen. Bisher sind das zusammengenommen 34.000 Personen. Aber das sind nur die, die sich offiziell registrieren haben lassen. Die Dunkelziffer ist um einiges höher.

Seit Kriegsausbruch gibt es eine Welle der Solidarität zwischen Ihren Landsleuten. Auch in der Politik scheinen alle an einem Strang zu ziehen. Selbst in Odessa arbeiten Ihre politischen Gegner mit Ihnen zusammen. Hat die Ukraine einen Krieg gebraucht, um dieses Gefühl der Einheit zu erzeugen?

Auch wenn ich dieses Wort zum ersten Mal benutze, es scheint mir in diesem Zusammenhang das richtige zu sein: Es war eine Schocktherapie. Bis zum 24. Februar hat es oft einen Unterschied gemacht, ob jemand aus dem Norden, dem Süden, dem Osten oder dem Westen der Ukraine kam. In Friedenszeiten haben die Leute oft gegeneinander gearbeitet, auch politisch. Heute stehen wir zusammen und ich hoffe, dass das so bleibt, wenn der Krieg vorbei ist.

Odessa hatte traditionell das Image einer Stadt, in der Russland viele Sympathien genießt - nicht zuletzt aufgrund ihrer Geschichte und weil die Mehrheit seiner Bevölkerung nicht Ukrainisch, sondern Russisch spricht. Wie erklären Sie sich, dass Ihre Stadt heute zu einer Bastion des ukrainischen Nationalismus geworden zu sein scheint?

Bis 2014 und auch nachher noch machte Odessa, allem voran unser Hafen, den Großteil seiner Geschäfte mit Russland. Russland hat uns zum Beispiel jedes Jahr 15 Millionen Tonnen Rohöl geliefert und wir haben viele unserer Produkte dorthin verschifft. Diese enge Verbindung war nicht selbstverständlich, es gab nur vom Westen lange vergleichsweise weniger Interesse, Geschäfte hier zu machen. Odessa war aber trotz dieser engen Verbindung mit Russland nie ein Teil von dem, was die "Russische Welt" (Russki Mir) ideologisch ausmacht. Tatsache ist, dass die meisten Touristen, die im Sommer zu uns kamen, Russen waren. Sie waren es, die ihr Geld in unseren Bars und Restaurants und Nachtklubs ausgegeben haben, und dementsprechend haben sich die meisten Betriebe nach ihren Bedürfnissen ausgerichtet. Aus Europa sind vergleichsweise nur wenig Touristen gekommen. Die sind höchstens nach Lwiw gefahren, aber nicht nach Odessa. Seit 2014, als das Land einen anderen, proeuropäischen Kurs eingeschlagen hat, hat sich trotzdem auch hier einiges geändert. In den vergangenen Jahren haben auch die Leute in Odessa langsam, aber sicher erkannt, dass man mit der EU und den USA gute Geschäfte machen kann, und ihre Produktion und ihren Vertrieb entsprechend restrukturiert.

Der Hafen ist blockiert, der Tourismus liegt darnieder - für Odessa fallen seine beiden Haupteinnahmequellen weg. Wie lange wird das die Stadt noch aushalten, bis es heißt: game over?

Russland blockiert nicht nur unseren Hafen, sondern das Schwarze Meer - und schneidet damit nicht nur uns, sondern große Teile der Welt von der Lebensmittelversorgung ab. Dagegen sollte es einen Aufschrei der Weltgemeinschaft geben. Neutrale Gewässer gehören nicht irgendeinem Land, sondern sollen für jeden zugänglich sein. Bis jetzt leben und überleben wir teilweise dank der Hilfe der EU, aber vor allem dank der, die wir aus den USA und Großbritannien bekommen. Obwohl die Situation in Odessa derzeit schwierig ist, fürchte ich, dass uns das Schlimmste noch bevorsteht. Was langfristig passieren wird, weiß zum jetzigen Zeitpunkt aber keiner.

Als ehemaliger sowjetischer Soldat wie als Geschäftsmann und Politiker kennen Sie Russland extrem gut. Warum wird der Krieg dort gänzlich anders wahrgenommen als hier?

Ganz ehrlich: Ich verstehe nicht, was dort passiert und warum es passiert. Ich glaube, wir haben es mit einem völlig neuen Russland zu tun, das nichts mehr mit dem zu tun hat, was ich kenne. Als Soldat der sowjetischen Armee wurde mir eingetrichtert, dass wir dazu da sind, unser Land gegen Aggressionen von außen zu verteidigen. Nicht, dass wir einfach so andere Länder überfallen, deren Städte bombardieren und Zivilisten töten. Das ist aber genau, was die russische Armee heute tut. Und Putin sitzt irgendwo und sieht das, oder er sieht es vielleicht nicht.

Wie ist das zu verstehen? Glauben Sie im Ernst, Putin weiß nichts von dem, was seine Streitkräfte in der Ukraine anrichten?

Natürlich ist Putin der Aggressor und natürlich weiß er, was hier passiert. Aber er ist trotzdem weit weg vom Geschehen. Er hat den Befehl zur Invasion gegeben, aber was ich meine ist, dass es die Kommandeure hier sind, die Zivilisten ins Visier nehmen. In der sowjetischen Armee gab es das nicht. Da ist ganz klar ein Wechsel in der Mentalität passiert, den ich mir persönlich nicht erklären kann. Ich selbst hätte als Soldat nie und nimmer Zivilisten getötet und ich habe damals auch nie erlebt, dass ein entsprechender Befehl gegeben worden wäre. In der Sowjetunion haben wir nicht einfach so andere Länder überfallen.

Afghanistan . . .

Okay, ich gebe Ihnen Recht, aber nur teilweise. Auch wenn die Gründe dafür, wie wir heute wissen, vielleicht erfunden waren: Der Einmarsch der sowjetischen Armee in Afghanistan war zumindest formal insofern abgesegnet, als die damalige afghanische Regierung offiziell darum gebeten hat. Das war kein Überfallskrieg so wie der, den wir heute erleben. Kein Mensch hat Russland gebeten, hierher zu kommen. Den Soldaten wird erzählt, dass hier alle Nazis seien und dass sie hierher geschickt werden, um uns zu befreien. Aber wie wir aus Gesprächen mit russischen Kriegsgefangenen wissen, wussten viele von ihnen gar nicht, dass sie in den Krieg geschickt werden. Meine Hoffnung ist deswegen immer noch, dass sie erkennen, dass sie etwas Falsches tun, ihre Waffen niederlegen und nach Hause gehen. Nach über zwei Monaten Krieg sollten sie erkannt haben, dass es sich hier um keine Übung und um keine "Spezialoperation" handelt, sondern dass sie ihre Befehle von Kriminellen bekommen, einschließlich vom obersten Kriminellen.

Die Soldaten sind das eine, die russische Öffentlichkeit ist das andere. Was ist zum Beispiel mit den Eltern dieser Soldaten, die zu den Taten ihrer Kinder in der Ukraine schweigen? Und mit denen, deren Kinder hier sterben?

Wenn die Eltern dieser Soldaten schweigen, machen sie sich definitiv zu Komplizen. Deshalb hoffe ich, dass sie bald in Russland darüber zu reden anfangen, was hier passiert.

Mitarbeit: Luca Faccio