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Das "schöne Wien" und seine Zukunft

Von Peter Rosner

Reflexionen

Von wegen "Aber das Weltkulturerbe!": Wenn die Stadt interessant bleiben will, wird man Gebäude abreißen müssen.


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Wien ist eine schöne Stadt. Nicht alles ist schön. Das kann einer Kleinstadt gelingen. Eine Großstadt ohne langweilige Viertel, ohne hässliche Plätze, ist undenkbar. Die Schönheit von Häusern, Straßen und Plätzen fällt auf, weil es auch Langweiliges und Hässliches gibt. Nicht nur die Sehenswürdigkeiten, mit denen Touristen angelockt werden, sind das Fundament dieser Schönheit. Sie bilden die Basis für die Anerkennung der Innenstadt als Weltkulturerbe. Aber auch die erst nach 1850 eingemeindeten Vorstädte sind Teil des historischen gewordenen schönen Wiens.

In einer kurzen Periode wurden Gebäude mit unterschiedlichen Gestaltungen errichtet. Viele Häuser sind mit Gesichtern, Köpfen und ganzen Figuren geschmückt. Oft wurden sie industriell gefertigt und konnten aus Katalogen bestellt werden. Die Häuser der frühen Moderne ergänzen die Schönheit. Nur wenig davon ist eine für den Tourismus relevante Sehenswürdigkeit. Sie bieten aber Blickfang, vor allem wenn man flaniert. Das gilt nicht nur für die inneren Bezirke, sondern auch für die seit langem verbauten Teile weiter draußen.

Anders als in vielen deutschen Städten haben die Zerstörungen durch den Krieg nur wenig davon vernichtet. Die Verbesserung der Wohnverhältnisse nach 1920 wurde überwiegend durch Neuerrichtungen außerhalb der bis dahin verbauten Gebiete erreicht, etwa die großen Gemeindebauten aus der Zwischenkriegszeit. Später wurden viele alte Häuser durch Verbesserungen ihrer schlechten Wohnungen erhaltenswert gemacht. Wohnungen ohne Wasseranschluss und ohne Toilette innerhalb der Wohnung gibt es kaum noch. Die Häuser mussten dazu nicht abgerissen werden. Das Wien des Jahres 1910 ist vielerorts dominant geblieben.

Radikal anders

Die Schönheit der Stadt soll bleiben. Aber was heißt das? Eine Möglichkeit ist, die Stadt zu erhalten, so wie sie ist. Alle Formen des Deckmalschutzes, des Ensembleschutzes und ähnlicher Konzepte sind anzuwenden. Wien bleibt in diesem Fall schön in der heutigen Vorstellung vom schönen Wien. Angenommen, das gelingt. Das Wien der Gründerzeit bleibt noch einmal so lange erhalten. Die Reiseführer um 2150 werden die Stadt als Juwel einer 250-jährigen Kultur anpreisen - wunderbar. Aber vielleicht werden manche Besucher feststellen: Seither ist Wien nicht mehr viel eingefallen.

Tatsächlich gibt es in den bereits 1910 verbauten Gebieten nur ganz wenige markante nach 1945 errichtete Gebäude. Bei einigen ist die Höhe des Gebäudes das Markante. Der Ringturm ist eines davon, vor fast 70 Jahren erbaut. Das Bundesdenkmalamt hat ihm zwar Denkmalschutz verschrieben, aber in dem von eben diesem Bundesdenkmalamt herausgegebenen Verzeichnis der Denkmäler (dem Handbuch "Dehio Wien - Innere Stadt") aus dem Jahr 2003 wird er, zum Unterschied zu den meisten anderen Gebäuden am Schottenring, nicht als Denkmal angeführt.

Vom Bundesdenkmalamt unter Denkmalschutz gestellt, im Verzeichnis der Denkmäler aus dem Jahr 2003 aber nicht angeführt: der Ringturm.
© Herzi Pinki, CC BY-SA 4.0 via Wikimedia Commons

Die beiden Türme am Eingang der Taborstraße von Hans Hollein bzw. Jean Nouvel wurden in Architekturkritiken ernst genommen, wenn auch nicht unkritisch gesehen. Sie sind eine Provokation gegen die Sehnsucht nach der Stadt der Gründerzeit, eine Drohung an die Innere Stadt vom anderen Ufer des Kanals. Die Sehnsucht nach Vergangenheit konnte dort nicht ausgelebt werden. Der Bau von Nouvel folgte einem Verwaltungsgebäude aus den 60er Jahren, das wiederum einem durch Bomben zerstörten Hotel aus der Gründerzeit folgte. Der gegenüberliegende Turm von Hollein trat an die Stelle eines mit einem kleinen Turm versehenen Verwaltungsgebäudes der OMV.

In vielen Publikationen wird bis heute die Stadthalle als der markanteste Neubau innerhalb des bereits seit Langem verbauten Gebietes nach 1945 angeführt - Eröffnung 1958. Ein Kultur- und Sportzentrum außerhalb des Gürtels - und doch gut erreichbar. Nicht die Höhe war das Beachtenswerte, sondern die Architektur. Modern und radikal anders als die Bauten der Umgebung. Ob denn dieser Bau sich einfüge in die architektonische Umgebung, wurde nicht diskutiert. Er war eben radikal anders. Demonstriert werden sollte, dass auch in Wien von der öffentlichen Hand Neues errichtet werden kann.

Mittlerweile ist dieser Aspekt verlorengegangen. Die Halle wurde durch Zubauten versteckt. Heute ist die Struktur des Baus nur noch von einer Seite her zu sehen. Die wenigsten Besucher und Passanten können die Radikalität des Baus wahrnehmen. Ob der Blick auf die Karlskirche durch die Erhöhung des Wien Museums gestört wird, wurde öffentlich diskutiert. Schon ihr Bau an diesem Ort schien vielen eine Sünde. Die Störung des Blicks auf die Stadthalle hat keine Diskussion ausgelöst. Moderne Architektur darf versteckt werden.

Einst modern und radikal anders als die Bauten der Umgebung, heute durch Zubauten versteckt: die Wiener Stadthalle.
© Bildagentur Zolles, CC BY-SA 3.0 via Wikimedia Commons

Natürlich gibt es im bereits 1910 dicht verbauten Gebiet moderne Gebäude. Schließlich musste ja gebaut werden. Viele der alten Gebäude hatten ihre ursprüngliche Funktion verloren oder sie waren stark verfallen. Manches davon ist beachtenswert. In einigen Fällen wurden alte Fassaden beibehalten. Es wird ein modernes Gebäude errichtet, aber von außen soll es möglichst nicht als solches erkannt werden.

Kaum leere Plätze

Der Extremfall dafür sind die früheren Gasometer. Nur bei einem der vier Gebäude ist von außen sichtbar, dass es sich um einen modernen Bau handelt. Das Stadtbild soll bleiben, wie es war. Im Zuge der Errichtung des Museumsquartiers war ein die bereits vorhandenen Gebäude überragender Leseturm geplant. Er wurde durch eine Kampagne gegen den Bau verhindert. Moderne Architektur gibt es, aber sehen soll man sie nicht.

Eine radikale Änderung des Bilds von Wien anzustreben, wäre absurd. Der Abriss der Stadtmauer Wiens war verbunden mit einer bewussten Suche nach einer neuen Stadt. Es gibt keinen Grund, so ein Bemühen zu wiederholen. Es gibt aber Gründe, manche Gebäude im alten Kern abzureißen. Einer davon: Es gibt kaum leere Plätze, auf denen gebaut werden kann. Will man auch in diesem Kern Gebäude errichten, die in den Reiseführern des Jahres 2150 Erwähnung finden könnten, müssen ältere abgerissen werden. Für die Stadthalle musste nichts beseitigt werden. Früher befand sich an diesem Ort ein Exerzierplatz.

Es geht nicht um vermeintlich hässliche Bauten, die man loswerden möchte. Aber wenn Gebäude ihre Funktion verlieren, warum soll man sie erhalten? Das zwischen 1909 und 1912 errichtete Bankgebäude am Schottentor wurde vor einigen Jahren von der Bank Austria aufgegeben. Beim Verkauf war klar, dass keine Bank in dieses Gebäude nachfolgen wird. Moderner Finanzwirtschaft ist dessen architektonische Würde als Bank, sowohl an der Fassade als auch im früheren Kassensaal deutlich erkennbar, fremd.

Für den sich jetzt in der Kassenhalle befindenden Supermarkt wirkt sie lächerlich. Eine Wurstsemmel kann in einem musealen Bau für Bankarchitektur gekauft werden! Der Würstelstand vor dem Gebäude hat Konkurrenz bekommen. Ein an diesem Platz errichtetes neues Gebäude für andere Aufgaben böte eine Chance für neue Architektur. Die gegenüberliegende Universität Wien hat sicher Bedarf. Das bestehende Bankgebäude wäre für sie wertlos. Ein Neues müsste in die Umgebung passen - wie die Faust aufs Aug’. Es sollen Gebäude errichtet werden, auf die unsere Nachfahren in hundert Jahren mit Stolz hinweisen können.

Ein Beispiel: das Haus von Günther Domenig in der äußeren Favoritenstraße - alles andere als schön im Sinne von harmonisch. Es ist eine Provokation. Weder passt es zu den verbliebenen Bauten aus der Gründerzeit noch zur Baukultur der Gemeindebauten, und auch nicht zur langweiligen Moderne. Es wurde in den 70er Jahren für eine Bank errichtet, ohne einen bildlichen Bezug zur Finanzwirtschaft. Die Veränderungen in diesem Wirtschaftszweig führten dazu, dass der Bau von der Bank aufgegeben wurde. Nach mehreren Jahren des Leerstands wurden vier Stockwerke in ein modernes türkisches Café-Restaurant umgewandelt. Zu hoffen ist, dass die lokale Kundschaft ein Stück modernes Wien ökonomisch absichern kann.

Eine Provokation: das Domenig-Haus in der äußeren Favoritenstraße - alles andere als schön im Sinne von harmonisch.
© Ninanuri, CC BY-SA 3.0 via Wikimedia Commons

Neue Gebäude werden für neue Funktionen benötigt. So wird geklagt, dass es kein Theater für Aufführungen gibt, in denen die traditionelle Trennung von Sprechtheater, Musiktheater, Tanz bis hin zu Zirkus aufgehoben wird. Das Volkstheater, nämlich die Kulturinstitution mit diesem Namen, ist in diesen Bereichen aktiv. Das Gebäude dieses Namens wird aus Gründen des Denkmalschutzes in einem fiktiven Urzustand belassen. Die Kulturinstitution Volkstheater muss sich mit dem denkmalgeschützten Bau aus dem Jahr 1889 begnügen.

Nicht Venedig werden

Seit 1945 wurde in vier Schritten die Anzahl der Plätze halbiert. Dennoch ist es auch mit guten Aufführungen schwer, das Haus zu füllen. Ein neuer Bau für neue Formen des Theaters wurde niemals gefordert. Hat die Niederlage mit dem Leseturm den Verfechtern moderner Architektur den Mut genommen?

Will man Wien als interessante Stadt erhalten, so wird man Gebäude abreißen müssen. Es soll der Bau von Gebäuden ermöglicht werden, von denen erhofft werden kann, dass sie in den Reiseführern 2150 erwähnt werden. Manche fürchten um die Identität der Stadt. Hat das Centre Pompidou oder die neue Oper an der Bastille die Identität von Paris verringert? Die Londoner City und die Neubauten entlang der Themse haben den Anblick der Stadt markant verändert. Ist London hässlich geworden?

Aber das Weltkulturerbe! Über den Blick auf Wien vom Belvedere hat sich Hugo von Hofmannsthal im Beginn seines Prologs zu "Anatol" geäußert: "Hohe Gitter, Taxushecken, / Wappen nimmermehr vergoldet / Sphinxe durch das Dickicht schimmernd / Knarrend öffnen sich die Tore. / Mit verschlafenen Kaskaden / Und verschlafenen Tritonen, / Rokoko, verstaubt und lieblich / Seht - das Wien des Canaletto ..."

Wien braucht Bauten mit Architektur des 21. Jahrhunderts im bereits seit langem verbauten Teil. Es geht nicht um die Schönheit der Stadt, was immer das ist. Zeitgenössische Architektur tritt nicht in einen Schönheitswettbewerb mit vergangener Architektur. Man geht auch in Ausstellungen moderner Kunst, ohne zu prüfen, ob denn die ausgestellten Werke schöner sind als die der alten Meister.

Die Ringstraße hat die Stadtmauer ersetzt. Das Looshaus am Michaelerplatz war ein Skandal. Dafür wurde ein Haus abgerissen. Das Hochhaus in der Herrengasse verdrängte einen Konzertsaal. Ein rigider Konservatismus mancher Vorstellungen von Denkmalschutz hätte diese Bauten verhindert. Wien soll nicht Venedig werden.

Peter Rosner war Dozent am Institut für Volkswirtschaftslehre der Universität Wien.