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Das schützenswerte Dach Österreichs

Von Heiner Boberski

Wissen
Die Pasterze, der große Gletscher unterhalb von Österreichs höchstem Berg, dem Großglockner, schmilzt rapide ab und hat unlängst Teile einer jahrtausendealten Zirbe freigegeben.
© Boberski

Der Nationalpark Hohe Tauern, eine grandiose Landschaft mit faszinierender Tier- und Pflanzenwelt.


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"Wo sich der ewige Schnee/spiegelt im Alpensee,/Sturzbach am Fels zerstäubt,/ eingedämmt Werke treibt . . ." Unwillkürlich fällt einem dieser Text von Anton Wildgans ein, wenn man den Nationalpark Hohe Tauern betritt. Auf Einladung der Verwaltung des Parks nimmt heuer Ende Juni eine Journalistengruppe aus Österreich und Deutschland an einer dreitägigen Tour durch das größte Schutzgebiet Mitteleuropas - Fläche: 1856 Quadratkilometer - teil. Wir wollen wissen, wie hier die Balance von Naturschutz und Tourismus aussieht, ob mit den beeindruckenden Besucherzahlen eventuell eine bedrückende Entwicklung der Ökosysteme einhergeht.

Der Nationalpark besteht seit 1981, wurde im Jahr 2006 durch die Weltnaturschutzunion IUCN als Schutzgebiet der Kategorie II (Nationalpark) anerkannt und hat Anteil an drei Bundesländern. Von den jährlich im Sommer gezählten 1,75 Millionen Besuchern des Nationalparks (ohne Einbeziehung der Benutzer der Großglockner-Hochalpenstraße) entfallen 1,14 Millionen auf Salzburg, das den größten Flächenanteil und einige besondere Highlights (etwa die Krimmler Wasserfälle) aufweist, 450.000 auf (Ost-)Tirol und 165.000 auf Kärnten. Laut einer Studie des Management Centre an der Fachhochschule Innsbruck sind es besonders "bildungsaffine" Gäste, 64,3 Prozent von ihnen verfügen über Matura oder einen noch höheren Bildungsabschluss.

Indoor- und Outdoor-Erlebnisse

Als Start einer Nationalpark-Tour empfiehlt sich Mittersill im Oberpinzgau. Die Erlebnisausstellung "Nationalparkwelten" im dortigen Nationalparkzentrum, konzipiert vom Biologen Norbert Winding, der in Salzburg das Haus der Natur leitet, macht intensiv mit Flora und Fauna, Mineralien, Gewässern und Gletschern vertraut. Winding will, dass die Besucher möglichst viele "Aha-Erlebnisse" mitnehmen.

In Mittersill, wo unter anderem ein einzigartiges 360-Grad-Panoramakino unvergessliche Eindrücke hinterlässt, erhalten viele Touristen ihre ersten Indoor-Eindrücke von dieser grandiosen Landschaft - oft an Regentagen, während die Gäste ja bei Schönwetter meist Outdoor-Erfahrungen sammeln. "Wandern ist der Trend Nummer eins" in dieser Region, weiß der Salzburger Nationalparkdirektor Wolfgang Urban.

Als nächste Station offeriert das nahe gelegene Hollersbach Beispiele für die vielfältigen Bildungs- und Informationsangebote im Nationalpark. Ein privater Verein hat, nachdem sich der Kosmetikkonzern Yves Rocher dort vom großflächigen Kräuteranbau zurückgezogen hat, 2008 die Projekte Kräutergarten und Bienenlehrpfad umgesetzt, gut besuchte Attraktionen, deren Seele Andrea Rieder ist. Sie macht Führungen, kümmert sich um neue Kräuter-Produkte, um deren Verpackung und Vermarktung, organisiert Kurse und erstellt Broschüren.

In der Hollersbacher Nationalpark-Werkstatt in einem alten Bauernhaus können Kinder und Jugendliche bei Herbert Schmuck viel über die Natur lernen. Da ist das Erkennen von Pflanzen - nicht jeder Nadelbaum ist eine Tanne! - ebenso dabei wie jenes von Tierspuren, aber auch die Herstellung von Butter oder die Verarbeitung von Heilkräutern. Und natürlich wird die Indoor-Bildung mit Outdoor-Expeditionen ergänzt.

Der 62-jährige Herbert ist einer der erfahrensten von 94 Rangern im Nationalpark. Ranger sind vor allem mit Wildtiermanagement, Forschungsprojekten, Besucherführungen und Bildungsprogrammen befasst. Nach seiner Motivation befragt, sagt jeder Ranger sinngemäß das Gleiche: Liebe zur Natur, verbunden mit dem Wunsch, möglichst viel von dieser Natur für künftige Generationen zu erhalten. Nach einer gründlichen Grundausbildung, die jetzt für alle Nationalparks gleich ist, werden Ranger für ihren engeren Wirkungsbereich geschult. Ranger sind "Allroundtalente", sagt uns zwei Tage später der Kärntner Nationalparkdirektor Peter Rupitsch, und jeder hat zusätzlich spezielle individuelle Kenntnisse und Fähigkeiten.

"Themenwege" lenken Besucher

Szenenwechsel von Salzburg nach Osttirol: Nach einer Fahrt über den Felbertauernpass steht eine abendliche Wanderung zu den Umbalfällen auf dem Programm. Auf dem Weg zur Islitzer Alm begleiten uns Sprüche von Sigbert Riccabona wie dieser: "Ich übergebe dem Wasser all meine Gedanken, besonders die schweren, und lasse sie zum Gedankenwasserfall werden." Es sind auch die noch naturbelassenen Gewässer, die den Nationalpark Hohe Tauern zu einer Schatztruhe Österreichs machen, von der sich besonders die deutschen Reisegefährten beeindruckt zeigen. Im Nationalpark Hohe Tauern finden sich 550 Seen, 279 Bäche (davon 57 Gletscherbäche) und 26 bedeutende Wasserfälle.

Die Nationalpark-Idee stammt aus den USA. 1872 wurde dort in den Rocky Mountains der Yellowstone Nationalpark gegründet. Der Naturschutz hat in solchen Gebieten an erster Stelle zu stehen. Er erscheint aber nicht nur mit latenten Gelüsten, noch mehr Wasserkraft auszubeuten, sondern auch mit wachsenden Besucherströmen nicht unbedingt vereinbar. Mehr Touristen bringen nicht nur mehr Geld, sondern auch mehr Zerstörung der Natur mit sich, und manche gefährden durch Leichtsinn sich selbst und andere. Unsere fachkundigen Begleiter beklagen eine "Vollkasko-Mentalität", mit der sich immer mehr Wanderer ungeübt auf gefährliche Routen begeben und dann von Bergrettern unter Einsatz des Lebens mühevoll gerettet werden müssen.

Eine Methode, um eine gewisse "Besucherlenkung" zu erzielen, sind "Themenwege", eine Weiterentwicklung früherer "Naturlehrpfade". Ein solcher Weg soll ein spannendes Thema an mehreren Stationen informativ und mit Bezug zur Landschaft aufbereiten, erklärt Anna Kovarovics vom Klagenfurter "E.C.O. Institut für Ökologie", das 2014 nach sorgfältiger Evaluierung 33 "Themenwege des Jahres" ausgewählt hat, darunter den Weg "Glocknerspur - Berge denken", den wir am nächsten Tag vom Lucknerhaus zur Lucknerhütte oberhalb von Kals beschreiten. Unser Begleiter, der Osttiroler Ranger Andreas Rofner, entpuppt sich als erstklassiger Hochgebirgsbotaniker, der jede Pflanze im Detail kennt.

Rare Arten wieder angesiedelt

Am Abend ist im Kärntner Glocknergebiet Wildtierbeobachtung angesagt. Der darauf spezialisierte Ranger Markus Lackner führt uns ganz nahe an Steinböcke und Murmeltiere heran. Für Tiere, die große Areale brauchen, hat ein so ausgedehntes Schutzgebiet wie der Nationalpark Hohe Tauern besonderen Wert. Hier sind äußerst rare Arten anzutreffen, etwa Steinadler, Schneehase und Luchs. Steinböcke und Bartgeier (mit einem Aktionsradius von 200 bis 400 Quadratkilometern) konnten erfolgreich wieder angesiedelt werden.

Im Nationalpark-Reich von 266 Dreitausendern erstrecken sich noch rund 130 Quadratkilometer Gletscher. Der dramatische Rückgang des Eises in den letzten Jahrzehnten lässt sich am letzten Tag der Tour bei einem Ausflug auf die Pasterze unterhalb der Franz-Josephs-Höhe gut nachvollziehen. Schilder mit Jahreszahlen zeigen an, bis wohin der inzwischen stark abgeschmolzene Gletscher noch vor relativ kurzer Zeit gereicht hat. Eine etwa 6000 Jahre alte Zirbe, die man unlängst aus dem Eis geborgen hat - der Kärntner Ranger Georg Granig führt uns zur Fundstelle -, bestätigt wie schon ähnliche Funde zuvor, dass hier auch schon andere - jetzt offenbar wiederkehrende - klimatische Bedingungen geherrscht haben.

Dass zum heutigen Klimawandel menschliche Faktoren wesentlich beitragen, wird nur noch von wenigen bezweifelt. Homo sapiens trägt die Hauptverantwortung dafür, wie die Welt von morgen aussehen wird, auch das schützenswerte Dach Österreichs.