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"Das sind keine Schwerverbrecher"

Von Michael Schmölzer

Politik

Steirer, die sich vor Plünderungen fürchten. Flüchtlinge, die jedes Vertrauen in die Obrigkeit verloren haben. Österreich vor großen Herausforderungen.


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Wien. Zu wenige Busse, fehlende Kommunikationskanäle. Keine Unterbringungsmöglichkeiten, Fehlinformationen, Verwirrung, Angst und dann Aggression. Während Politiker auf nationaler und EU-Ebene einander wechselweise die Schuld am Flüchtlingschaos in die Schuhe schieben, sich die Bundesländer von Wien und Slowenien von der EU im Stich gelassen fühlen, bekommen Polizisten, Helfer und vor allem Flüchtlinge die Auswirkungen des Polit-Versagens zu spüren. Viele Sanitäter sind in Spielfeld 16 Stunden non-stop im Einsatz, um das Schlimmste zu verhindern. Die Flüchtlinge sind durchfroren, viele krank, die Ungewissheit, wie es weitergeht, nagt an den Nerven.

Schwierig für Polizei und Rotes Kreuz, hier Überblick und Ruhe zu bewahren. Oft kommt es zu brenzligen Situationen, etwa wenn Busse gestürmt werden, um noch einen Platz zu ergattern. In einer Turnhalle in Wagna flogen zwischen Flüchtlingen die Fäuste, die Beamten mussten dazwischengehen.

Desinformation, überall

Und dann ist es gerade eine Überforderung der Polizei, die bei Österreichern für Verunsicherung sorgt. Dass Flüchtlinge Absperrungen durchbrechen, irritiert viele. Die Desinformation treibt skurrile Blüten. So liegen Meldungen vor, wonach steirische Gewerbetreibende am Donnerstag ihre Geschäfte aus Angst vor Plünderungen durch Flüchtlinge geschlossen haben. "Es handelt sich um keine Schwerverbrecher. Bisher haben alle in den Geschäften bezahlt", nimmt Polizeisprecher Fritz Grundig die Migranten in Schutz. Es sei definitiv noch nicht zu Ladendiebstählen gekommen.

Gleichzeitig mussten Migranten, die auf eigene Faust quer durch Österreich nach Deutschland gehen wollten, mit großer Geduld überredet werden, doch lieber auf die Busse zu warten. Die Flüchtenden, die oftmals eine lebensgefährliche Überfahrt per Schlauchboot nach Europa hinter sich haben, immer wieder betrogen, hingehalten, umgeleitet und hinter Zäune verbannt worden waren, haben jedes Vertrauen verloren.

Das macht den österreichischen Behörden, die wohlwollend sind, zu schaffen. Wenn der ungarische Premier Viktor Orbán die vorwiegend männlichen Flüchtlinge mit "einer Armee" vergleicht, gegen die man das "europäische Erbe" verteidigen müsse, erweist das dem Klima in Österreich keinen Dienst. Noch ist es hier nicht zu gröberen Übergriffen auf Migranten gekommen. Nur ein betrunkener Innviertler hat am Donnerstag am Grenzübergang Schärding/Neuhaus Flüchtlinge angepöbelt, dann war er auf Polizisten losgegangen und festgenommen worden.

Der steirische Landeshauptmann Hermann Schützenhöfer hatte am Donnerstag massive Kritik an den Bund gerichtet. Es seien viel zu wenige Busse zum Abtransport der Flüchtlinge bereitgestanden, mit der Begründung, dass man "überrascht" worden sei. Dieses Argument wollte der ÖVP-Mann nicht gelten lassen - man hätte sich nur ein wenig informieren müssen, was derzeit auf der Welt geschehe, meinte Schützenhöfer.

Kälte in Europa

Es wird mittlerweile empfindlich kalt, wer kein Quartier hat, friert erbärmlich. ORF und Rotes Kreuz berichten, dass Hunderte bei Spielfeld die Nacht im Freien verbringen mussten - bei Temperaturen um null Grad. Das Rote Kreuz hat Tee ausgeschenkt und Aluminiumdecken verteilt.

Noch hat es keine Erfrorenen gegeben, doch das könnte sich ändern. Viele haben schon die Nacht zum Mittwoch an der kroatisch-slowenischen Grenze im Freien verbracht. Die meisten Migranten sind mit Schlafsäcken ausgerüstet. Und Slowenien überlegt jetzt, so wie Ungarn einen Zaun an der Grenze zu Kroatien zu bauen. Das würde nicht weniger Flüchtlinge, sondern ein weiteres Ausweichen auf eine andere Route bedeuten.

Der Krieg in Syrien tobt seit dem Eingreifen Russlands noch heftiger als zuvor. Der erwartete Kampf um Aleppo wird Zehntausende aus ihrer Heimat zunächst in die Türkei und dann weiter nach Europa vertreiben.

Unterdessen ist in Österreich eine lebhafte Polit-Debatte über die Sinnhaftigkeit entbrannt, den Ausbau einer "Festung Europa" zu fordern. Das hatte Innenministerin Johanna Mikl-Leitner während eines Lokalaugenscheins in Spielfeld getan. Verteidigungsminister Gerald Klug kritisierte daraufhin die Wortwahl der Ministerin - er halte die "Titulierung ,Festung Europa‘ für eine "politische Fehleinschätzung". Der Sicherheitssprecher der Grünen, Peter Pilz, meinte: "Etwas Dümmeres als die Aussage von Mikl-Leitner über die ,Festung Europa‘ habe ich schon lange nicht mehr gehört. Nur weil es eine Festung St. Pölten gibt, heißt das nicht, dass das auf ganz Europa umgelegt werden kann. Ein Festungsbau ohne Alternativen heißt nicht, dass die Menschen nicht mehr nach Europa kommen, sondern es heißt nur, dass die Situation für die Flüchtlinge noch lebensgefährlicher wird und mehr Menschen illegal einwandern werden", so Pilz.

Hotspot Kärnten

Unterdessen stellt sich Kärnten auf die Ankunft von tausenden Flüchtlingen ein. Am späten Donnerstag-Abend ist der erste Transport mit rund 600 Menschen eingetroffen, die Menschen wurden in Notquartieren in Villach untergebracht. Bei den Migranten habe man Fälle von grippalen Infekten, Fieber und Durchfallerkrankungen festgestellt, hieß es. Für Freitagabend wurden rund 1200 weitere Flüchtlinge erwartet, 600 sollten aus der Steiermark nach Kärnten umgeleitet werden.

In Spielfeld haben am Freitag wieder rund 1500 auf Busse wartende Flüchtlinge Absperrungen durchbrochen, um zu Fuß oder per Taxi nach Deutschland zu kommen. Hunderte gingen weiter, weil sie nicht glauben wollten, dass ihr Ziel noch hunderte Kilometer entfernt ist. Manche kehrten um.

Der Zugverkehr zwischen dem Grenzort Sentilj und Leibnitz musste ebenfalls eingestellt werden, weil unzählige Menschen, darunter auch kleine Kinder, auf den Gleisen und entlang des Bahndamms unterwegs waren. Am Freitag sind mindestens 7000 Flüchtlinge von Slowenien nach Österreich gekommen.