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Hätte er ein Drehbuch geschrieben, das die Ereignisse der letzten amerikanischen Wahlnacht vorweggenommen hätte, wäre er bei jedem Studio hochkantig hinausgeflogen, meinte der amerikanische Schauspieler, Drehbuchautor und Regisseur Rob Reiner - u.a. stammen die Drehbücher zu den Filmen "Schmeiß die Mama aus dem Zug", "Schlaflos in Seattle" und "Der amerikanische Präsident" von ihm - am Ende der wohl nervenaufreibendsten amerikanischen Wahlnacht der letzten hundert Jahre zu einem CNN-Reporter. Und er liegt mit dieser Aussage nicht daneben. Das Ergebnis der Präsidentenwahl vom 7. November 2000 wird sicherlich als das skurrilste und unbequemste in die Geschichte der amerikanischen Präsidentenwahlen eingehen.
Noch steht nicht genau fest, wie die Wahl im alles entscheidenden Bundesstaat Florida ausgegangen ist. Möglicherweise weiß man überhaupt erst, wer der nächste Präsident sein wird, wenn in einigen Tagen auch die Stimmen der Wahlkartenwähler eingetroffen sind. Es ist möglich und wahrscheinlich, dass ein paar hundert unter den rund sechs Millionen in diesem Bundesstaat abgegebenen Stimmen den Ausschlag geben, ob George W. Bush oder Al Gore als Nachfolger Bill Clintons am 20. Jänner ins Weiße Haus einzieht. Und wenn nur ein Bruchteil der rund 96.000 Wähler des chancenlosen dritten Kandidaten, des Grünen Ralph Nader, ihre Stimme dem bisherigen demokratischen Vizepräsidenten gegeben hätte, wäre ihm der Weg zur Präsidentschaft sicher und nicht dem texanischen Gouverneur, der bisher vorwiegend mit seinen Unterschriften unter Todesurteile die internationalen Nachrichten beherrscht hat.
Es hat schon vor den Wahlen politische Befürchtungen gegeben, dass der stimmenstärkste Kandidat die Wahlmännermehrheit verfehlen könnte und damit aus dem Rennen scheidet. Allerdings hatte man eher damit gerechnet, dass Gore von dem antiquierten Wahlmännersystem, das aus dem 18. Jahrhundert stammt, profitieren würde. Nun hat der scheidende Vizepräsident in den letzten Tagen mit seinem Marathonwahleinsatz offensichtlich so viel Terrain gutmachen können, dass er bei den Wählerstimmen um rund 200.000 vor Bush liegt. Trotzdem wird er als Verlierer aus der Wahl hervorgehen, falls nicht in Florida noch ein kleines Wunder geschieht. Und Al Gore befindet sich dabei in guter Gesellschaft. Schon dreimal in der amerikanischen Präsidentengeschichte wurde nicht der Kandidat mit den meisten Stimmen Herr im Weißen Haus. 1824 unterlag Andrew Jackson, der dann von 1829 bis 1837 Präsident wurde, weil man ihm bei der Abstimmung im Repräsentantenhaus den Sieg stahl. 1876 erreichte der demokratische Kandidat Samuel J. Tilden zwar 51 Prozent der Stimmen, der Republikaner Rutherford B. Hayes wurde aber mit nur 48 Prozent und einer Wahlmännerstimme Vorsprung glückloser Präsident für eine Periode, wobei offensichtlich Wahlbetrug im Spiel war. Die Wahl von 1876 hält den Rekord der am knappsten ausgegangenen, was die Elektoren betrifft, die vom 7. November 2000 folgt auf Platz 2. Und 1888 unterlag ebenfalls ein Demokrat, Grover Cleveland, der sich der Wiederwahl stellte, nach Wahlmännerstimmen, obwohl er bei den direkten Wählerstimmen um rund 90.000 voranlag. Es mag Gore ein schwacher Trost sein, dass Cleveland bei den Wahlen von 1892 seinen Gegenkandidaten Benjamin Harrison deutlich schlug und ins Weiße Haus zurückkehrte.
Angenommen der wahrscheinliche Fall tritt ein, dass Gore trotz Stimmenvorsprung verliert, wird das Wahlmännersystem neuerlich zur Diskussion stehen. Ebenso ist aber auch anzunehmen, dass die nun dreimaligen Nutznießer dieses Systems, die Republikaner, wenig Neigung zu einer grundlegenden Reform zeigen werden.
Abgesehen davon wurden von Analysten schon in der Wahlnacht die Schwächen des demokratischen Wahlkampfes aufgezeigt. Gore hätte den zwar als Person wegen seiner Affären umstrittenen, aber politisch noch immer hochangesehenen Präsidenten Bill Clinton stärker in seine Wahlkampagne einbauen müssen. Zu früh hat er auch massive Wahlwerbung in einzelnen Bundesstaaten - genannt wurde vor allem Ohio mit 21 Wahlmännern - aufgegeben und sie Bush überlassen. Mit seiner prononcierten Umweltpolitik hat er in Industriestaaten, wie etwa West Virginia, wichtige Wählerschichten verschreckt, ohne eine Kandidatur des grünen Kandidaten Nader verhindern zu können. Und schließlich ist es Gore nicht gut genug gelungen, seine progressiven Ideen in der Gesundheits- und Sozialpolitik bei der älteren Generation zu verkaufen.
Die diesjährigen Präsidentenwaahlen werden sicher als Kuriosität in die amerikanische Geschichte eingehen. Die Folgen für die Politik der nächsten Legislaturperioden - immer vorausgesetzt, dass Bush der Sieger bleibt - sind aber unabsehbar, vor allem wenn man bedenkt, welche Weichenstellungen ein republikanischer Präsident bei der Neubesetzung des Höchstrichtergremiums vornehmen wird, das in wichtigen gesellschaftspolitischen Fragen ein gewichtiges Wort mitzureden hat.